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Die Welt der Materie

Weiche und aktive Materie

Weiche Materie zeichnet sich durch eine Reihe faszinierender Eigenschaften aus. Der Aufwand, den man zu ihrer Untersuchung betreiben muss, zahlt sich aus: Mit weicher Materie könnten sich in Zukunft intelligente und selbstanpassende Materialien herstellen lassen.

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Diamant, Stahl und Eis sind hart: Ein Materialblock lässt sich nicht einfach mit bloßen Händen deformieren. Es gibt aber auch eine Fülle von Materialien, die man ohne großen Kraftaufwand verformen kann – etwa Ketchup, Zahnpasta, Wandfarbe und Wachs. Solche Materialien fasst man unter dem Begriff weiche Materie zusammen. Die genaue Definition bezieht sich auf die charakteristischen Größen ihrer bestimmenden Strukturen: Mindestens eine von ihnen muss im mittleren – also mesoskopischen – Bereich zwischen einem Nanometer und ein paar Mikrometern liegen. Nach einer anderen Definition charakterisiert sich weiche Materie dadurch, dass eine typische Bindungsenergie zwischen den Bausteinen etwa so groß ist wie ihre Wärmeenergie. Das ist relativ klein im Vergleich zu molekularen Systemen. Dies führt zusammen mit der mesoskopischen Größe der Bausteine dazu, dass sich das Objekt kaum noch einer Scherung widersetzt – es ist weich.

Lange Zeit galten solche weichen Materialien als kompliziert, nicht reproduzierbar, unkontrollierbar und von daher unerforschbar. Dies hat sich vor rund vier Jahrzehnten deutlich geändert. Saubere Probenpräparation ermöglichte wiederholbare Untersuchungen an gut charakterisierten Proben. Damit hat sich das Forschungsgebiet weicher Materialien zu einem wichtigen Gebiet der Physik der kondensierten Materie entwickelt. Die weiche Materie in diesem Sinne enthält verschiedene Materialklassen, wobei insbesondere kolloidale Dis­per­sio­nen (kurz: Kolloide), Flüssigkristalle, Polymere und Mikroemulsionen zu nennen sind.

Arten klassischer weicher Materie

Auch im Gleichgewicht bewegen sich die einzelnen Kolloide auf mikroskopischer Skala fortlaufend (Brownsche Bewegung). Durch die vielen Stöße mit dem Lösungsmittel ergeben sich gezackte und zufällige Teilchenbahnen. Die Bewegung der Kolloide ist sehr viel langsamer als die der Lösungsmittelmoleküle. Sind Hindernisse wie zum Beispiel benachbarte Teilchen im Spiel, dann ist die Dynamik hingegen sehr viel komplizierter. Die Bewegung eines Teilchens setzt nämlich auch das Lösungsmittel in Bewegung. Das dadurch entstehende Strömungsfeld spüren wiederum die benachbarten Teilchen.

Obwohl die einzelnen Kolloidteilchen so klein sind, dass man sie nicht mit dem bloßen Auge sieht, kann man sie mit verschiedenen Methoden orten und so ganze Teilchenbahnen nachmessen. Mit Laserfeldern gelingt es, sie wie mit einer Pinzette festzuhalten oder an einen bestimmten Ort zu bringen, was eine vielseitige Einflussnahme erlaubt (optische Pinzette, Physik-Nobelpreis 2018).

Etwas anders ist die Situation, wenn nicht kugelförmige Teilchen, sondern zum Beispiel stäbchenförmige oder kegelförmige Kolloidteilchen vorliegen. Hier können nicht nur die Zentren der Teilchen geordnet sein, sondern die Orientierung der Teilchen im Raum kann eine Ordnung haben. Eine Substanz mit einer solchen partiellen Ordnung besitzt sowohl flüssige als auch kristalline Eigenschaften, wofür der Begriff Flüssigkristall geprägt wurde. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die polare Phase: Hier zeigen die Orientierungen aller Teilchen im Mittel in die gleiche Richtung. Hat man apolare Teilchenformen (das sind Teilchenformen, die man um 180 Grad spiegeln kann, ohne dass sie sich ändern, wie Zylinder) dann tritt keine polare Phase auf, aber es gibt eine orientierungsgeordnete nematische Phase. Hier zeigen die Stäbchen im Mittel alle in die gleiche Richtung („nema“ ist Griechisch und heißt Faden). Es gibt noch viele weitere solcher flüssig­kristallinen Mesophasen, die teilweise geordnet, teilweise ungeordnet sind.

Ein Polymer besteht aus einer langen Aneinanderreihung von vielen Bausteinen, die durch starke chemische Bindungen verkettet sind. Das einfachste Beispiel ist eine lange Kohlenwasserstoffkette (etwa in Wachs oder Paraffin). Viele solcher Ketten können in der Schmelze oder im Lösungsmittel enthalten sein. Dadurch, dass sie sich verhaken, zu Schlaufen formen und gegenseitig behindern, ist eine theoretische Beschreibung nicht einfach, gelingt aber mit moderner Skalentheorie.

Wandfarbe (Dispersionsfarbe) ist eine kolloidale Suspension, also eine Mischung von kleinen Festkörperteilchen in einer Trägerflüssigkeit (links oben). In einem Flüssigkristalldisplay (LCD) wird durch eine elektrische Spannung zwischen der ungeordneten durchsichtigen Flüssigphase und der geordneten kristallinen Phase umgeschaltet (rechts oben). Langkettige Polymere können sich zu dauerhaft flexiblen Festkörpern anordnen, wie etwa die Kautschukmoleküle in Gummi (links unten). Eine Emulsion wie im Beispiel der Milch schließlich ist eine Mischung aus verschiedenen, nicht ineinander löslichen Flüssigkeiten, sodass Mikrotröpfchen erhalten bleiben (hier Fetttröpfchen in Kaffeesahne unter dem Mikroskop, rechts unten).

Emulsionen sind Mischungen von zwei Flüssigkeiten, wie die Fetttröpfchen, die in der wässrigen Milch schwimmen. Bei geringer Oberflächenspannung zwischen den beiden koexistierenden flüssigen Phasen können die Grenzflächen dabei sehr viel komplizierter sein als die reine Kugelform. Solche geringen Oberflächenspannungen können durch den Zusatz von Molekülen erreicht werden, die sich an der Grenzfläche festsetzen. Thermische Schwankungen lassen die Grenzfläche dann stark fluktuieren und es können neue Strukturen entstehen. Ein Beispiel ist eine Mikroemulsion, die aus Öl, Wasser und Tensidmolekülen besteht und hochkomplizierte Grenzflächenstrukturen auf der Mikrometerskala ausbildet.

All diese Materialklassen sind Beispiele von Gleichgewichtssystemen, d. h. makroskopische Messgrößen wie die Temperatur sind zeitlich konstant. Diese makroskopischen Eigenschaften sind dann bestimmt durch statistische Mittelwerte der klassischen Boltzmannverteilung. Sie enthält neben der (konstanten und vorgegebenen) Systemtemperatur die Hamiltonfunktion, also die Gesamtenergie als Funktion der Orte und Impulse aller Bestandteile. Insbesondere ist auch die Gesamtentropie zeitlich konstant, in Übereinstimmung mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Auf mikroskopischer Ebene gibt es zwar zeitliche Fluktuationen, aber es herrscht ein sogenanntes detailliertes Gleichgewicht: Alle Prozesse sind zeitlich reversibel.

Durch externe Felder oder Einflüsse kann man weiche Materie gezielt aus dem Gleichgewicht bringen. Die globale Entropie ist dann nicht mehr zeitlich konstant. Ein Beispiel dafür ist ein System in einer Lösungsmittelströmung. Einerseits eignet sich weiche Materie dafür sehr gut, weil man keine großen Störungen aufbringen muss, um die Gleich­gewichts­struk­turen aufzubrechen. Andererseits kann man viele Vorteile von mesoskopischen Längenskalen und den relativ langsamen Zeitskalen nutzen: Die Teilchenbahnen von Kolloiden können verfolgt und die Störung kann maßgeschneidert werden. In komplexeren Fluiden kann man zur Sichtbarmachung der Dynamik einzelner Prozesse Techniken wie die ultrahochauflösende Fluoreszenzspektroskopie (Nobelpreis für Chemie 2014) nutzen. Unter einem externen Feldeinfluss entstehen oft neue Strukturen und Muster, die im Gleichgewicht nicht vorkommen.

Aktive weiche Materie

In all den bislang beschriebenen Situationen sind die Kolloidteilchen passiv, d. h. sie werden höchstens von dem äußeren Feld angetrieben. Man spricht deshalb auch von passiver weicher Materie. In den vergangenen beiden Jahrzehnten gelang es, Kolloidteilchen künstlich mit einem eigenen Antrieb – gewissermaßen einem Motor – auszustatten. Solch ein aktives Teilchen bewegt sich typischerweise sehr viel schneller und dynamischer als ein passives, welches der rein diffusiven Brownschen Dynamik folgt. Im Mittel bewegt sich ein selbstgetriebenes Teilchen mit einer konstanten Geschwindigkeit. Es wandelt also ständig Energie in mechanische Bewegung um und wird dabei durch das Lösungsmittel gedämpft. Bei diesen irreversiblen (zeitlich nicht umkehrbaren) Prozessen wird fortwährend Entropie erzeugt, das Kennzeichen des Nichtgleichgewichts. Erst auf großen Zeitskalen betrachtet erscheint die Bewegung wieder diffusiv, allerdings mit einem sehr viel größeren Diffusionskoeffizienten. Ein solches dynamisches Verhalten wird als aktive Brownsche Bewegung bezeichnet. Immer wenn solche selbstgetriebenen Teilchen im Spiel sind, bezeichnet man das resultierende System als aktive weiche Materie. Dazu gehören auch lebende Systeme wie Bakterien oder Spermien.

Solch ein künstlich aufgeprägter Selbstantrieb kann zum Beispiel durch die periodische Bewegung von Körpergliedern realisiert werden. Das Muschel-Theorem besagt, dass man in zähen Fluiden nur vorankommt, wenn man ein Bewegungsmuster benutzt, das nicht spiegelbar in der Zeit ist. Bei vielen Bakterien wird dies mechanisch durch die Drehung angebrachter Flagellen realisiert. Eine Spiegelung in der Zeit – also der Rückwärtsbetrieb – verändert die Drehrichtung von rechts- auf linksdrehend (oder umgekehrt), sodass der Vortrieb nach dem Muschel-Theorem möglich ist.

Ein wichtiger Mechanismus, der ohne mechanische Bewegung auskommt, besteht darin, dass das Teilchen ein Gefälle einer physikalischen Eigenschaft (Temperatur, Konzentration eines Zusatzstoffs oder ähnliches) selbst erzeugt und sich in diesem Gefälle von selbst bewegt. Dieses Phänomen wird auch als Phorese bezeichnet. Ein wichtiges Beispiel dafür ist ein mit Wasserstoffperoxid angereichertes Lösungsmittel. Wasserstoffperoxid zerfällt in Wasser und Sauerstoff. Benutzt man ein Teilchen aus zwei verschiedenen Stoffen (Janusteilchen) – etwa ein Plastikteilchen mit einer Metallkappe –, dann katalysiert das Metall die Zersetzungsreaktion des Lösungsmittels. Damit entsteht entlang des Teilchens ein Gefälle der Wasserstoffperoxidkonzentration, in welchem sich wiederum das Teilchen selbst fortbewegt. Außerdem kann die Aktivität auch durch externe Felder erzeugt werden: Ein Beispiel hierfür sind nichtleitende Partikel, die unter der Einwirkung eines elektrischen Felds zu rotieren beginnen, und zwar in zufällige Richtungen senkrecht zum Feld. In großen Ensembles können solche rotierenden Mikrokugeln einen geordneten Partikelstrom bilden. Auch magnetische Felder lassen sich nutzen, um (anisotrope) Teilchen in Bewegung mit zufälligen Richtungen zu versetzen.

Kollektives Verhalten aktiver Materie

Das Zusammenspiel von vielen aktiven Teilchen birgt neue Phänomene, die kein Gegenstück in der Welt der passiven Teilchen besitzen – auch nicht, wenn diese durch externe Felder ins Nichtgleichgewicht getrieben werden.

Schwarmbildung: Fischschwärme bilden große, sich fortbewegende Strukturen, wobei einzelne Fische andere Bewegungsmuster zeigen können als der gesamte Schwarm.

Schwarmbildung: Die Entstehung kollektiver gerichteter Bewegung in aktiven Systemen ist ein Selbstorganisationsprozess mit vielen bekannten Beispielen, von der kohärenten Bewegung von Zellen, Bakterien und bestimmten selbstgetriebenen Kolloiden bis hin zur Schwarmbildung von Vögeln („Von Schwärmen und Schleimpilzen“ auf Seite 239). Ein minimales (aber gerade deshalb breit anwendbares) Modell, das diesen Effekt erklärt, beschreibt die Fortbewegungsrichtungen von Teilchen im fluktuierenden Geschwindigkeitsfeld der Nachbarteilchen, an dem sie sich auszurichten versuchen. Es zeigt einen Phasenübergang von zufälligem zu geordnetem Verhalten. Das System bildet aufgrund der ausrichtenden mikroskopischen Wechselwirkungen eine lokale (bei Schwärmen) oder langreichweitige polare Ordnung der Geschwindigkeiten, und zwar bereits dann, wenn die Teilchenbewegung räumlich auf eine Ebene begrenzt ist.

Aktive Turbulenz: Aktive Flüssigkeiten können spontan chaotische Strömungen und irreguläre größere Wirbel ausbilden. Innerhalb der Wirbel bewegen sich benachbarte Teilchen in geordneter Weise. Dieses als aktive Turbulenz bezeichnete Phänomen tritt, im Unterschied zur klassischen Turbulenz, bereits in viskosen Systemen mit starker Dämpfung durch das Lösungsmittel, also bei niedrigen Strömungsgeschwindigkeiten auf. Aktive Turbulenz wurde inzwischen, experimentell und in Simulationen, in einer ganzen Reihe von Systemen beobachtet, von Bakterienflüssigkeiten bis hin zu Systemen aus Janusteilchen (Teilchen mit einer Kappe aus einem anderen Material).

Janusteilchen: Durch die unterschiedliche Lichtabsorption der hellen und dunklen Seite lässt sich Bewegung der Teilchen mit Lichteinstrahlung induzieren.

Einblick in die Biologie, Inspiration für die Materialwissenschaften

Neben den biologischen Beispielen lassen sich auch synthetische aktive Polymere durch das Zusammenfügen aktiver Monomere herstellen. Schließlich gibt es auch Beispiele aktiver Mikroemulsionen, z. B. Flüssigkristalltröpfchen, die sich – ausgelöst durch Oberflächenspannungen – in einer Tensid­lösung bewegen und ein sehr gut kontrollierbares Modell großer aktiver Teilchen darstellen. Ein genaueres Verständnis solcher komplexer aktiver Fluide liefert Einsichten in Selbstorganisationsprozesse in der Biologie und damit vielleicht sogar in die Entstehung von Krankheiten.

In all den genannten Systemen treibt die Aktivität bereits die einzelnen Konstituenten aus dem Gleichgewicht. Weitere faszinierende Eigenschaften ergeben sich, wenn man kollektive Phänomene wechselwirkender aktiver Teilchen betrachtet, wie etwa Phasenübergänge im Nichtgleichgewicht und dynamische Musterbildung. Ein weiterer auch im Hinblick auf Anwendungen interessanter Aspekt sind die neuartigen Material­eigenschaften aktiver Systeme. So können aktive Fluide nicht nur spontan, sondern auch komplett reibungsfrei oder senkrecht zu einem Druckgradienten fließen. Generell vermutet man, dass aktive weiche Systeme ein größeres Potenzial als Bestandteile adaptiver intelligenter Materialien haben, die ihre Eigenschaften spontan im Hinblick auf geänderte Außenbedingungen anpassen können.

Eine grundsätzliche, gerade auch im Hinblick auf die Biologie wichtige Frage ist, wie sich aktive Teilchen in viskoelastischen Umgebungen wie etwa Polymersubstanzen oder Flüssigkristallen fortbewegen. Solche komplexen Umgebungen sind typisch für das Innere von Zellen und erzeugen Gedächtnis­effekte. Sie können aber auch die Kräfte der Teilchen untereinander beeinflussen. Aufgrund solcher exotischen Effekte sind Hybridsysteme von aktiven und komplexen passiven Bestandteilen hochinteressante Kandidaten für innovative Materialien.

Eine weitere zukunftweisende Forschungsrichtung betrifft die Suche nach Möglichkeiten, einzelne aktive Teilchen oder ganze aktive Systeme zu kontrollieren. Methoden aus der künstlichen Intelligenz, der Optimalsteuerung und der Rückkopplungskontrolle könnten helfen, aktive Teilchen bzw. Materialien mit autonomer Funktion (und damit einer Art Intelligenz) auf nano- bis mesoskopischer Längenskala zu designen. Einzelne aktive Teilchen könnten sich dann wie kleine Mikroroboter selbstständig durch Blutgefäße bewegen, um Medikamente zu transportieren oder sogar kleine Eingriffe vorzunehmen. Eine solche Vision zeichnete Richard Feynman bereits 1959 in einem Vortrag, der als Geburtsstunde der Nanotechnologie gilt. Nun ist sie zwar noch nicht Realität geworden, aber in greifbare Nähe gerückt.

Sabine Klapp und Hartmut Löwen