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Die physikalische Forschung hat in den letzten Jahrzehnten in vielen Bereichen, besonders in der Grundlagenforschung, große Fortschritte gemacht. Solche Fortschritte können Verschiedenes bedeuten: Neue Phänomene und Zusammenhänge wurden entdeckt, offene Fragen beantwortet, und durch Modelle oder Theorien vorhergesagte Erscheinungen erstmals mit Messungen beobachtet.

Das grundsätzliche Verständnis der physikalischen Phänomene in der Natur hat sich dadurch gefestigt und konkretisiert. Die quantenmechanische Beschreibung der atomaren Welt funktioniert außerordentlich exakt, sodass es unter anderem möglich ist, die Ergebnisse grundlegender Messungen mit enormer Präzision, und auch Eigenschaften von Materialien im Computer vorherzusagen, um so Stoffe mit bestimmten Funktionalitäten gezielt herzustellen. Ebenso erfolgreich sind die Vorhersagen der allgemeinen und der speziellen Relativitätstheorie: Bahnen von Raumsonden und Planeten sind präzise berechenbar, und die relative Verlangsamung des Uhrengangs im Schwerefeld der Erde ist so genau bekannt, dass in jedem Smartphone die Satellitennavigation metergenau arbeiten kann.

Doch die Physik ist in diesen Grundlagenbereichen nicht „fertig“. Es gibt Aspekte, die sich noch immer eindeutigen Erklärungen entziehen: Auf großräumigen Skalen gibt es klare experimentelle Hinweise, dass eine unsichtbare Art von Materie (Dunkle Materie) und Energie (Dunkle Energie) die Bewegungen von Galaxien, Galaxienhaufen und die Entwicklung des Universums als Ganzes bestimmt. Die Frage, warum es genau drei Familien von Elementarteilchen gibt, die sich so deutlich in ihren Massen unterscheiden, entzieht sich ebenso noch der Erklärung. Ob und wie sich erfolgreiche Theorien der Welt der Atome, Elektronen und Elementarteilchen und von Raum und Zeit zusammenführen lassen, wird intensiv bearbeitet. Immer deutlicher wird, dass komplex zusammengesetzte Systeme sich anders verhalten als die Summe ihrer Komponenten. Das Verhalten von Schwärmen, Menschengruppen oder anderen biologischen Systemen kann dabei mit physikalischen Methoden erforscht werden – ein Bereich, in dem in Zukunft deutliche Verständnisfortschritte zu erwarten sind.

Die offenen Fragen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, das im gesamten Bereich „dazwischen“ – also von den Elementarteilchen über die Atome bis hin zu Sternen – die Theorien und Modelle sehr exakte und immer wieder erfolgreich überprüfte Vorhersagen machen. Die Physik hat in diesem riesigen Größen- und Zeitbereich einen wertvollen und vor allem verlässlichen Erkenntnisschatz angehäuft, den wir im Kapitel „Wissen“ schlaglichtartig darstellen – immer mit Blick auf seine Grenzen und damit auf die Perspektiven der Forschung kommender Jahrzehnte.

Während einige der Modellvorhersagen der Physik, wie die erst im Jahr 2012 durch Messungen belegte Existenz des Higgs-Teilchens, voraussichtlich nicht direkt zu gesellschaftlichen Auswirkungen oder wirtschaftlich nutzbaren Anwendungen führen werden, sind andere Vorhersagen global relevant: Schon seit mehr als fünfzig Jahren werden die Folgen des menschengemachten Klimawandels prognostiziert. Die Modelle werden dabei immer genauer. Der Erwärmungstrend setzt sich weiter fort und das Pariser Klimaziel von 1,5° C oder weniger Erderwärmung wurde bereits verfehlt. Die Auswirkungen des verstärkten Treibhauseffekts auf das komplexe Erdsystem bringt die Vorhersagemodelle an ihre Grenzen, da immer mehr Komponenten des Klimasystems in Zustände gelangen, bei denen nicht klar ist, ob ein nur kleiner zusätzlicher Temperaturanstieg zu großen und schnellen Veränderungen führen wird. Unser Platz im Universum wurde durch astrophysikalische Forschung mit zahlreichen neuen Observatorien auf der Erde und im Weltall so genau bestimmt wie nie zuvor. Wir kennen unsere kosmische Nachbarschaft, und auch die großräumigen Strukturen des Universums sind gut vermessen. Während für viele Jahrhunderte Beobachtungen von sichtbarem Licht die meisten Informationen lieferten, ist heute das ganze elektromagnetische Spektrum von den Radiowellen bis zu den Gammastrahlen für die Astronomie erschlossen. Zusätzlich werden andere Boten aus dem Universum genutzt: lichtschnelle Teilchen, die aus ganz anderen Regionen unserer Milchstraße und darüber hinaus zu uns gelangen, und Verzerrungen in der Raumzeit – Gravitationswellen –, die vom verschmelzen Schwarzer Löcher in Millionen Lichtjahre entfernten Galaxien berichten.

Fortschritt in der Wissenschaft bedeutet oft, dass die Grenzen des Wissens verschoben werden, ohne dass zunächst eine von der Art her grundsätzlich neue Erkenntnis gewonnen wird. Ein Beispiel für eine solche Grenzverschiebung ist die Suche nach der Masse des Neutrinos, von der bekannt ist, dass sie sehr klein ist, aber nicht ganz exakt Null sein kann. Die Messungen geben immer bessere Obergrenzen, ohne jedoch bisher genau die Masse bestimmt zu haben. Eine andere Art von Verschiebung ergibt sich in der Präzision von Zeitmessungen durch immer genauere Uhren. Während Atomuhren längst etablierte Taktgeber für jeden Alltagsbedarf sind, ermöglichen heutige optische Uhren oder zukünftige Kernuhren eine so große Präzision der Zeitmessung, dass auf Basis des minimal veränderten Uhrengangs im Schwerefeld der Erde die Höhe eines Orts auf wenige Millimeter genau bestimmt werden kann.

Die Essenz vieler Grundphänomene der Physik ist im Titelbild dieses Buchs künstlerisch dargestellt. Wer findet hier Felder, Teilchen, Kräfte? Ist Verschränkung gemeint? Die Raumkrümmung durch Massen, das Magnetfeld der Erde oder die Gluonen, die Quarks zusammenhalten? Sehen wir Sterne und Galaxien am Rande des Universums und zweidimensionale Materialien?

Auch der Bereich der alltäglichen Erfahrung wird durch physikalische Forschung weiter erschlossen. Die Entwicklung von Materialien, mit deren Hilfe wir unser Leben immer angenehmer gestalten können, nutzt zunehmend Effekte aus, die sich aus den exotischen mathematischen Regeln der Topologie ergeben. Damit können in Zukunft nicht nur elektronische, sondern auch spintronische oder photonische Bauteile zur Datenverarbeitung hergestellt werden. Mit leistungsfähigen Computern wiederum ist es möglich geworden, die Eigenschaften von neuen Materialien vorherzusagen oder passende Zusammensetzungen zu suchen. Die Quantenphysik liefert auch hier den soliden theoretischen Unterbau. Dass Materialien in nur zwei Dimensionen beispielsweise als Graphen erzeugt werden können, ist eine gerade einmal zwanzig Jahre alte Entdeckung. Die Forschung dazu, welche Möglichkeiten sich aus der Kombination mehrerer zweidimensionaler Schichten ergeben, steckt noch in den Anfängen und zeigt schon jetzt interessante und nützliche Ergebnisse.

Die Lebenswissenschaften haben Einzug in die Physik gehalten – und umgekehrt. Mit modernen mikroskopischen Methoden lassen sich die Struktur und Funktion von Biomolekülen atomgenau aufklären, was bei der Suche nach medizinischen Wirkstoffen sehr hilfreich sein wird. Messungen an einzelnen Zellen und Nervenbahnen öffnen Horizonte für zukünftige Diagnose- und Therapieverfahren. Die Frage nach dem Ursprung des Lebens schließlich wird auch von physikalischer Seite angegangen, wenn Forschende versuchen, die Funktionen einfacher Zellen von Grund auf nachzubauen. In welchen Bereichen neue Erkenntnisse mithilfe von künstlicher Intelligenz, Quantencomputern, immer besserer Messtechnik bis hinunter zu kleinsten Zeit- und Längenbereichen und mit Experimenten im Weltraum möglich sein werden, zeichnet sich zwar grundsätzlich ab. Doch der genaue Blick in die Zukunft bleibt – trotz aller Physik – unscharf, und Überraschungen sind immer möglich. Nur durch weitere Forschung werden sich noch mehr Geheimnisse der Natur lüften lassen.