EINLEITUNG

Reine Neugier?

Zum Verhältnis von Grundlagenforschung und angewandter Forschung

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Die Physik als Grundlagenwissenschaft der Naturerkenntnis untersucht die Struktur und Dynamik der Materie vom Kosmos bis hin zu den elementaren Bausteinen und deren fundamentale Wechselwirkungen (siehe auch den vorigen Artikel). Diese Fragestellungen erfordern Grundlagenforschung. Aber was verstehen wir darunter und in welchem Verhältnis steht sie zur angewandten Forschung? Beim Blick in die Geschichte ist erkennbar, dass das Verhältnis von Grundlagen- und angewandter Forschung eine vielfältige Entwicklung durchlaufen hat, die Begriffe sind deshalb noch heute Gegenstand historischer und wissenschaftstheoretischer Forschung (siehe auch Seite 308).

Die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung ist eine der größten und erfolgreichsten Kulturleistungen der Menschheit (Seite 303). Naturwissenschaften unterziehen alle Hypothesen mit Experimenten und Beobachtungen einer objektiven Überprüfung und erkennen Gesetzmäßigkeiten, die ständig beim Vordringen in neue Bereiche der Natur bestätigt oder weiterentwickelt werden und dadurch verlässliche Voraussagen treffen können. Diese Methodik garantiert, sich der „Wahrheit“ immer mehr anzunähern – das macht sie so erfolgreich – unabhängig davon, dass man eine „endgültige“ oder eine „ewige Wahrheit“, wie sie Glaubenssysteme bereithalten, nie erreichen kann. Nach verbreitetem Verständnis folgt die Grundlagenforschung ausschließlich der Suche nach Erkenntnis und Wahrheit und ist fester Bestandteil des Systems akademischer Forschung und Lehre, dessen Freiheit unser Grundgesetz sichert. Oft auch als „Neugierforschung“ bezeichnet, sind Anwendungen nicht Ziel von Grundlagenforschung.

Wissenschaft ist frei!

Unser Grundgesetz sagt in §5, Absatz (3): „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“

Die Forschenden sind also frei in der Wahl ihrer Themen und Methoden, soweit sie nicht anderen Grundrechten wie der Menschenwürde entgegenstehen.

Forschung und Lehre sind Bestandteile der Wissenschaft, sodass die Freiheit auch für Zweck- und Auftragsforschung gesichert ist.

Im Gesetz nicht formuliert, aber vom Bundesverfassungsgericht klargestellt, ist die Verpflichtung des Staates, mit der Institution der Hochschulen Teilhabe an freier Wissenschaft zu organisieren.

Forschung als Teil der Wissenschaft genießt das Freiheitsrecht, es gibt aber keinen expliziten verfassungsrechtlichen Anspruch auf staatliche Förderung.

In welchem Umfang die Gesellschaft Betätigungsmöglichkeiten für die Ausübung von Wissenschaft bereitstellt, muss im Dialog zwischen Forschenden, Politik und Zivilgesellschaft verhandelt werden, damit die steigenden Bedürfnisse der Gesellschaft an wissenschaftlichen Ergebnissen und ihren Anwendungen erfüllt werden können.

Es sind allerdings die vielfältigen Anwendungen physikalischer Erkenntnisse, die die materielle Basis unserer modernen Gesellschaft ausmachen. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt beruht entscheidend auf der Nutzung unseres Wissens über die Natur und ihre Gesetze. In der Physik sind es neue Verfahren, Materialien und Technologien, die unsere technikbasierte Lebensweise verändern. Praktisch-technische Probleme verlangen problemorientierte Forschung mit häufig großem Aufwand, eben angewandte Forschung. Direkt mit dem Ziel industrieller Anwendung verbunden wird auch von „Zweckforschung“ oder „Forschung und Entwicklung“ gesprochen.

„Sir, es ist sehr wahrscheinlich, dass Ihr bald Steuern darauf erheben könnt“

Um das Verhältnis von Grundlagenforschung und angewandter Forschung anschaulich zu beschreiben, wird oft eine Überlieferung von Michael Faraday bemüht. Er war eine der herausragenden Forscherpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts und hat wesentlich die phänomenologischen Erkenntnisse zu Elektrizität und Magnetismus gewonnen, den Feldbegriff eingeführt und das Induktionsgesetz entdeckt. Nach der Vorführung seiner Experimente vor dem späteren britischen Premierminister William Gladstone soll dieser gefragt haben, wozu denn diese ganzen Versuche nütze seien. Und hier kommt die legendäre Antwort, die Faraday gegeben haben soll: „Sir, es ist sehr wahrscheinlich, dass Ihr bald Steuern darauf erheben könnt.“ Welcher Art die möglichen Anwendungen seiner Forschung sein würden, konnte Faraday also nicht sagen. Aber ihm war klar, dass sie von großer gesellschaftlicher, also sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Bedeutung sein würden. Wir leben heute in einer Phase technologischen Wandels, in der alle unsere Verfahren so weit wie möglich auf strombasierte Technologien umgestellt werden, um dem Klimawandel zu begegnen. Die Lehre vom Elektromagnetismus bestimmt also nicht nur heute unseren Alltag, sondern auch unsere Zukunft, wie wir im Abschnitt „Globale Herausforderungen“ ab Seite 263 darstellen. Die CO2-Steuer ist ein aktuelles Beispiel einer mit den Ergebnissen der Natur- und Wirtschaftswissenschaften begründeten Steuergesetzgebung.

Werner von Siemens: Votum betreffend die Gründung eines Instituts für die experimentelle Förderung der exakten Naturforschung und der Präzisionstechnik, 1916

Anwendungen bauen dabei auf dem von der Grundlagenforschung gelegten Fundament auf. Max Plancks Ausspruch „Dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen“ ist heute noch ein Motto der Max-Planck-Gesellschaft. Ob sich aus Erkenntnissen der Grundlagenforschung Anwendungen ableiten lassen, ist oft nicht vorhersehbar und daher wenig planbar. Grundlagenforschung ist langfristig angelegt und ihr Erfolg beruht wesentlich auf den Möglichkeiten der freien Entfaltung des kreativen Potenzials der Forschenden. Andererseits ist das Wechselspiel zwischen Erkenntnissen der Grundlagenforschung und den praktischen Anwendungen kein einseitiger Wissenstransfer. Neue technologische Entwicklungen dringen weit in die Grundlagen der Naturerkenntnis vor, die früher der Grundlagenforschung vorbehalten waren. Dabei entwickeln wir für unsere immer mehr auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Lebensweise zunehmend komplexere Anwendungen. Quantentechnologien, künstliche Intelligenz oder Umweltforschung sind besondere Beispiele dafür. Auch ist Grundlagenforschung besonders dort ohne Hochtechnologie nicht denkbar, wo sie auf Geräte angewiesen ist, die Messungen am Grenzbereich des technologisch Möglichen benötigen. Die Grundlagenforschung benötigt die Hochtechnologie, und umgekehrt entstehen wichtige Anwendungen und neue Technologien aus dem Forschungsbetrieb selbst. Der Nachweis der Gravitationswellen zum Beispiel belegt das in eindrucksvoller Weise. Hier ist die Messung von Längenänderungen mit einer Genauigkeit eines Tausendstels des Protonenradius über einer Gesamtlänge von etwa einem Kilometer erforderlich. Ohne besondere Beschichtungstechniken für Spiegel, Lasertechnik und Messmethoden (Seite 25) wäre so ein Erfolg auf einem Gebiet, das geradezu exemplarisch für reinen Erkenntnisgewinn steht, nicht möglich.

So lässt unsere Gesellschaft mit ihrer auf Hochtechnologie beruhenden Wirtschaft die Grenzen zwischen Grundlagen und Anwendungen der Wissenschaft, nicht zuletzt auch im Bereich industrieller und militärischer Anwendungen, immer weiter verschwimmen. Damit rücken neben wirtschaftlichen auch ethische Fragen nach den möglichen Auswirkungen wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Anwendungen zunehmend und existenziell in den Vordergrund (Seite 319). Genforschung, Quantencomputing und künstliche Intelligenz sind, neben den bekannten, dramatischen Folgen von Entwicklung und Einsatz von Massenvernichtungswaffen, moderne Beispiele (Seite 323). Hier hat die Wissenschaft nicht nur die Verantwortung, ethische Maßstäbe für ihre Forschung zu setzen, sie hat auch die große Verpflichtung, Gesellschaft und Politik immer wieder auf die möglichen Folgen ihrer Erkenntnisse hinzuweisen, das Bewusstsein für mögliche Auswirkungen zu schärfen und sich mit Fachwissen und Fakten in die öffentliche Debatte einzubringen.

Die ständig wachsenden Erwartungen an wissenschaftliche Erkenntnisse und die Anforderungen an ihre Umsetzung in Wirtschaft und Technik verändern auch die Stellung der Wissenschaft. Gesellschaftlich relevante Fragestellungen wie Klimawandel, Energieversorgung oder Mobilität sind so komplex, dass bereits die Auswahl der Fakten, die für die Modellierung künftiger Szenarien einzubeziehen sind, Gegenstand der Diskussion ist. Lösungsansätze für diese großen globalen Menschheitsprobleme bewegen sich auf dem sicheren Grund der durch die Grundlagenforschung erkannten Naturgesetze; bei ihrer Umsetzung muss aber zusätzlich eine Vielzahl gesellschaftlicher Implikationen berücksichtigt werden, was über den Rahmen der Naturwissenschaften hinaus geht. Damit verliert nicht nur die historisch gewachsene Trennung von Grundlagen- und angewandter Forschung immer mehr ihre Grundlage, es entwickelt sich auch eine zunehmend transdisziplinäre Arbeitsweise in der Forschung. Für die Ausgestaltung der Strukturen des Wissenschaftsbetriebs und seiner institutionellen und finanziellen Ausstattung bedeutet dies, das Gesamtsystem gleichermaßen zu entwickeln und auf höchstem Niveau in allen Bereichen hinzuarbeiten. Wie oft kommt es vor, dass Grundlagenerkenntnisse auf eine technische Neuerung angewiesen sind oder umgekehrt? Wie fatal, wenn dann eine der Komponenten vernachlässigt wurde!

Die Grundlagenforschung ist also nicht losgelöst von ihren Implikationen und Anwendungen zu sehen. Die Anforderungen der Gesellschaft an die Wissenschaft und umgekehrt die Forderungen der Forschenden nach Realisierungsmöglichkeiten für diese Anforderungen sind immer aufs Neue im Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft zu klären und daraus nachhaltige politische Entscheidungen abzuleiten.

Ulrich Bleyer