Physiker:innen interessieren sich für natürliche Phänomene und Prozesse, die wir in der Welt erfahren und beobachten können, und versuchen, ihre Vielfalt zu verstehen. Wie bewegen sich Körper und warum? Weshalb sind manche Materialien fest und andere weich oder flüssig? Wie entstehen Farben? Warum sind manche Dinge magnetisch und andere nicht? Welche Stoffe leiten elektrischen Strom?



Physikalische Messgrößen: Intersubjektive Beobachtungen
Solche physikalischen Fragen haben einen anthropologischen Ursprung: Menschen mussten stets Entfernungen, Geschwindigkeiten oder Kräfte abschätzen, um besser überleben zu können. Deswegen gehören einfache physikalische Messgeräte wie Lineale für Abstände, Sonnenuhren für Zeitdauern oder Waagen für Gewichte zu den frühesten Kulturleistungen der Menschheit. Im Laufe der Geschichte kamen weitere Apparaturen hinzu, mit denen sich wirkende Kräfte und Energien, Temperatur und Wärme, die Intensitäten von Licht und Farben quantitativ fassen ließen. Gemeinsam ist allen Messgeräten, dass sie unverändert nachgebaut und ihre Messungen überall und jederzeit wiederholt werden können. Vor allem aber weisen sie immer eine Skala auf, an der man eindeutig Zahlen als Messwerte ablesen kann. Dadurch werden Beobachtungen deutungsfrei und unabhängig von den Beobachtenden, da jede:r die Messung Anderer überprüfen und Einspruch erheben kann. Diese intersubjektive Vergleichbarkeit führt zu einer Akzeptanz der Messgrößen und verbürgt die weltweite Gültigkeit physikalischer Aussagen.
Auf dieser Wiederholbarkeit von Beobachtungen gründet die Physik ihre Erkenntnisse, indem sie allein mit solchen physikalischen Größen argumentiert, die durch Messgeräte gegeben sind. Diese Messgrößen werden durch einen Buchstaben symbolisiert, wobei die ablesbaren Zahlenwerte stets mit einer Einheit angegeben werden müssen, die für das verwendete Messgerät steht. So ist z. B. die Temperatur T diejenige Größe, die ein bestimmtes Thermometer anzeigt. Ist das Thermometer so gebaut, dass es auf „Grad Celsius“ geeicht ist, gibt man die konkreten Messwerte mit T = 37 °C an, wobei die Einheit °C die Konstruktionsweise des Thermometers kenntlich macht. Entsprechend wird die elektrische Spannung U durch ein konstruiertes Voltmeter und der elektrische Strom I durch ein Amperemeter bestimmt. 2019 hat man sich für das internationale Einheitensystem (SI) auf festgelegte Werte für sieben definierende Konstanten geeinigt, darunter die fundamentalen Naturkonstanten c und h, sodass die SI-Einheiten nicht mehr von der Konstruktion und den physikalischen Eigenschaften von Messgeräten abhängen und sich jede physikalische Größe relativ zu diesen universalen Grundeinheiten ausdrücken lässt („Die universelle Defifinition der physikalischen Einheiten“ auf Seite 209).

Es bleibt eine zentrale Aufgabe der Physik, neue Messgeräte zu erfinden, um reproduzierbare Phänomene zu entdecken und Messgeräte mit möglichst genauen und gut reproduzierbaren Werten für bekannte und vermeintlich verstandene Phänomene zu bauen, um eventuelle Abweichungen vom erwarteten Verhalten feststellen zu können („Mit Präzisions-messungen auf der Suche nach neuer Physik“ auf Seite 159). Weil solche intersubjektiven Messgrößen bei individuellen Erlebnissen von Menschen nicht möglich sind, gehören Gedankenprozesse oder Intentionen zu denjenigen Phänomenen, die der Physik prinzipiell verborgen bleiben. Physik ist somit vor allem eine Wissenschaft der genauen Beobachtung und der Entdeckung wiederholbarer Phänomene und Prozesse, die aufgrund der Zahlenskala an Messgeräten verglichen werden können.
Physikalische Naturgesetze: Gleichbleibende Beziehungen zwischen Messgrößen
Vergleichende Messungen ermöglichen es, in der Vielfalt der Phänomene und Prozesse gleichbleibende Zusammenhänge zu erkennen. Liest man an einem Voltmeter zwischen den Enden eines Drahts einen Spannungswert U ab, tritt stets ein dazu proportionaler Wert I an einem Amperemeter auf. Solche Zusammenhänge lassen sich durch Gleichungen zwischen diesen Messgrößen ausdrücken – in diesem Beispiel durch das Ohmsche Gesetz U = R⋅I, wobei das Verhältnis R, der Widerstand des Drahts, nur von dem verwendeten Draht abhängt, nicht aber davon, wer die Messungen durchgeführt hat oder wo. In diesen überprüfbaren Relationen zwischen physikalischen Messgrößen liegt der Grund für die Anwendbarkeit der Mathematik in der Physik (Seite 17).
Im Laufe der Geschichte traten immer feingliedrigere Beziehungen zutage. Neben geometrischen Proportionen zwischen Abständen und algebraischen Relationen zwischen Zahlen erwies sich vor allem die Differenzialrechnung als fruchtbar. Sie betrachtet zum Beispiel, wie sich eine Größe kontinuierlich mit der Zeit ändert. So konnten Geschwindigkeiten v und Beschleunigungen a von Körpern als Verhältnisse von messbaren Abständen und Zeiten eingeführt und die Newtonsche Bewegungsgleichung F = m⋅a erkannt werden, wobei die Masse m über ihr Gewicht durch eine Waage, die Kraft F durch eine Dehnungsfeder und die Beschleunigung a mit einem Längenmaßstab und einer Uhr bestimmt werden.
Solche jederzeit und überall überprüfbaren Beziehungen zwischen messbaren Größen erwiesen sich faszinierenderweise als unabhängig von uns Menschen, d. h. als universell gültige Naturgesetze, auf die wir keinen Einfluss haben, die wir aber nutzen können. Unter den bekanntesten sind die vom Abstand r zwischen zwei Körpern der Massen m1 und m2 abhängende Gravitationskraft F = Gm1m2/r2 mit der Gravitationskonstanten G, die wir täglich als Schwere spüren, aber auch Satelliten auf ihren Bahnen hält; die Relation zwischen dem Strom in einer Drahtspule und der magnetischen Kraft, die wir in jedem Elektromotor nutzen; oder die Einsteinrelation E = m⋅c2 zwischen der Energie und Masse eines Körpers. Sie erlaubt uns zu verstehen, warum die Sonne über mehrere Milliarden Jahre leuchten und uns mit Wärme versorgen kann.

Naturgesetze und Phänomenbereiche der Physik
Die Physik entdeckte in der Vielfalt der Phänomene viele gleichbleibende Beziehungen zwischen messbaren Größen, die durch mathematische Grundgleichungen ausgedrückt und so in physikalische Phänomenbereiche geordnet werden konnten:
- Die klassische Mechanik für alle Phänomene der Bewegung von Körpern mit der Masse m basiert auf der Newtonschen Gleichung
zwischen der Beschleunigung und der wirkenden Kraft zwischen der Beschleunigung . -
Die Thermodynamik für alle Phänomene der Wärme beruht auf der Clausiusschen Relation
zwischen der Änderung der Entropie S und der ausgetauschten Wärme dQ bei einem reversiblen Prozess. -
Die Elektrodynamik für alle elektrischen und magnetischen Phänomene gründet auf den Maxwell-Gleichungen
zwischen Ladungs- und Stromdichten jν sowie den elektrischen und magnetischen Feldern Fµν.
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Die Quantenphysik für alle Phänomene der Unschärfe und Verschränkung von Zuständen basiert auf der Heisenbergschen Vertauschungsrelation
[r̂,p̂]=i ħ
zwischen Ort r̂ und Impuls p̂ von Teilchen (Seite 24).
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Die statistische Physik für alle Phänomene der Unordnung und kollektiven Kooperation beruht auf der Boltzmannschen Gleichung
S = kB log W
zwischen Entropie S und Wahrscheinlichkeit W von Zuständen.
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Die Kosmologie und damit alle Phänomene der Struktur von Raum und Zeit gründen auf der Einsteinschen Gleichung (Seite 59)
Gµv=kTµv
zwischen der messbaren Krümmung Gµν der Raumzeit und dem Energie-Impuls Tµν der Materie (Seite 67).
Natürlich spielen in der Regel viele der Phänomenbereiche gleichzeitig eine Rolle, z. B. im Abschnitt „Physik und Leben“ ab Seite 131 vor allem die Thermodynamik und die statistische Physik, im Abschnitt „Die Welt der Materie um uns herum“ ab Seite 73 vor allem die statistische Physik und die Quantendynamik, im Abschnitt „Das Kleinste und das Größte“ ab Seite 34 vor allem die Quantendynamik und die Kosmologie.
Physikalische Entitäten: Elementare Teilchen und Felder
Beobachten wir die Natur, so fallen uns Objekte auf, die trotz ihrer Bewegungen und unterschiedlicher Beobachtungsperspektiven scheinbar dieselben bleiben: die Sonne, der Baum, das Wasserglas. Die Physik machte es sich zur Aufgabe, nach Objekten zu suchen, die für physikalische Größen die gleichen Messwerte zeigen, egal wann und an welchem Ort oder in welcher räumlichen Orientierung sie gemessen wurden– sozusagen die gleichbleibenden Bausteine, aus denen die Vielfalt der sich verändernden Welt zusammengesetzt ist. Sonne, Baum und Wasserglas schieden aus: Ein Wasserglas zerbricht beim Aufprall, der Baum verliert im Herbst seine grünen Blätter, und selbst die Helligkeit der Sonne schwankt. Aber in der Vielfalt der Materialien konnten Substanzen wie Gold und Eisen gefunden werden, die stets gleiche physikalische Größen wie Massendichte, Farbe oder Festigkeit aufwiesen und sich chemisch gleich verhielten. Es zeigte sich, dass diese stofflichen, chemischen Elemente aus gleichen mikroskopischen Atomen aufgebaut sind, die sich zu Molekülen verbinden können und durch ihre verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten sowohl die Vielfalt als auch die Veränderbarkeit der Materialien hervorbringen (Seite 51).

Aber auch die chemischen Elemente konnten durch radioaktive Prozesse umgewandelt werden, da die Atome aus Elektronen und Atomkernen bestehen, zudem diese Kerne aus Protonen und Neutronen zusammengesetzt sind und sich somit umwandeln können. Tatsächlich nutzt die Geophysik heute diese veränderlichen Eigenschaften von Elementen, indem sie geophysikalische Prozesse mithilfe von stabilen und radioaktiven Kernen des gleichen Elements (Isotopen) nachvollzieht (Seite 255).
Während Elektronen nach heutigem Stand zu den elementaren Bausteinen gezählt werden, gilt das nicht für die Protonen und Neutronen. Denn diese ließen sich wiederum in Quarks verschiedener elementarer Massen, Ladungen und Spins zerlegen (Seite 48). Hinzu kamen Entdeckungen von noch weiteren elementaren Teilchen wie den Neutrinos (Seite 45), den Myonen und den Tauonen. Die systematische Zusammenfassung aller bekannten Elementarteilchen und der Wechselwirkungen zwischen ihnen bezeichnen Physiker:innen heute als das Standardmodell der Teilchenphysik (Seite 35). Es liefert nicht nur eine Erklärung dafür, wie Materie zusammengesetzt ist, sondern auch dafür, wie ihre unterschiedlichen Eigenschaften zu verstehen sind: Für jeden Körper erhält man die gemessenen Werte, z. B. von Masse, Ladung oder magnetischem Moment, durch Addition der Werte seiner elementaren Bestandteile und der Eigenschaften ihrer Verbindungen. Diese Objektivierung der Materie durch elementare Teilchen beruht allein auf der Beobachtung der Invarianz physikalischer Messgrößen: Nur solche vom messenden Beobachter und dem jeweiligen Geschehen unabhängigen Objekte können elementare physikalische Entitäten sein.
Sind die elementaren Objekte und ihre Wechselwirkungen bekannt, so kann man sich auch zusammengesetzten Objekten mit neuen Erkenntnissen zuwenden und so neuen Phänomenen auf die Spur kommen – etwa Weißen Zwergen und Roten Riesen in der Astrophysik (ab Seite 57), oder auch Skyrmionen in magnetischen Festkörpern (Seite 81). Aber vor allem können Biomoleküle sich in Wasser zu supramolekularen Komplexen zusammenfinden, Organellen und Zellen bilden, die für unser Leben essenziell sind (Seite 145). Das Wissen über die molekularen Bausteine und ihren physikalischen Wechselwirkungen in chemischen Bindungen ist somit für das Verständnis der lebenden Materie und damit auch für Biologie und Medizin unentbehrlich.
Messgeräte für Licht und Strahlungen zeigen aber noch eine zweite Klasse von physikalischen Entitäten, die sich nicht unmittelbar als elementare Teilchen verstehen lassen: die elektromagnetischen Felder. Sie breiten sich im gesamten Raum wellenartig aus und zwar stets mit der gleichen Geschwindigkeit – der Lichtgeschwindigkeit. Gleichzeitig sind sie an die elementaren Teilchen gekoppelt und führen zu Kräften zwischen diesen. Im Laufe der Geschichte wurden neben dem elektromagnetischen Feld und dem Gravitationsfeld (Seite 59) weitere elementare Kraftfelder gemessen: starke und schwache Kernkräfte, die von den in Atomkernen neu entdeckten elementaren Teilchen erzeugt und gespürt werden.
Es ist eine wichtige Aufgabe der Physik zu untersuchen, ob die elementaren Teilchen wirklich elementar, also nicht zusammengesetzt und unveränderlich sind, und ob die Felder wirklich fundamental, d. h. nicht als Teile eines umfassenderen Felds begriffen werden können.
Prinzipien der Physik
Für die Begründung des physikalischen Wissens wurden fundamentale Prinzipien formuliert, die unsere Erkenntnissuche leiten. Zunächst sind dies die methodischen Prinzipien wie die Wiederholbarkeit von Experimenten, die logische Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit von Argumentationen sowie die Unabhängigkeit der Aussagen von menschengemachten Konventionen.
Hinzu kommen Prinzipien des Weltverständnisses, die physikalische Theorien erfüllen sollten. Die wichtigsten sind u. a.
- das Relativitätsprinzip: Naturgesetze sind für alle Beobachtenden gleich, die sich gleichförmig zueinander bewegen; es gibt für sie keine ausgezeichneten Orte, Zeiten oder Geschwindigkeiten;
- das Atomprinzip: Materie ist aus fundamentalen Entitäten aufgebaut; alle ihre physikalischen Größen lassen sich aus Wechselwirkungsrelationen zwischen elementaren Teilchen und Feldern bestimmen;
- das Lokalitätsprinzip: Wechselwirkungen von Teilchen und Feldern sind nur am gleichen Ort zur gleichen Zeit möglich; es gibt keine Fernwirkungen;
- das Kausalitätsprinzip: Zeit zeigt eine Richtung, die erlaubt zwischen vorher und nachher, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden; es gibt keine Zeitumkehr oder Reise in die Vergangenheit;
- das Superpositionsprinzip: Quantenfelder lassen sich additiv überlagern; sie zeigen deswegen Wellenausbreitung und Interferenzen.
Letztlich wird die Physik von dem Prinzip der Einheit der Welt geleitet, dass Naturgesetze universell gelten und es keine alternativen Fakten gibt.
Wahrscheinlichkeit von Ereignissen: Quantisierung
Die scheinbare Verschiedenheit des Verhaltens von elementaren Teilchen und Feldern wurde durch die Entdeckung ihres gemeinsamen Quantencharakters aufgehoben: Teilchen erscheinen als lokale Ereignisse von Feldern, die nur die Wahrscheinlichkeiten ihrer Realisierungsorte darstellen. Auch Felder erscheinen daher in Messungen als Teilchen und Teilchen verhalten sich wie Felder, die im gesamten Raum ausgebreitet sind und Welleneigenschaften zeigen wie Licht („Die Wahr-scheinlichkeitswelt der Quanten“ auf Seite 24). Das einheitliche Verhalten konnte durch Gleichungen für Quantenfelder beschrieben werden, deren Eigenschaften zu den anspruchsvollsten aktuellen Themen der Mathematik gehören (Seite 17). Diese Quantenfeldtheorie lieferte auch eine Erklärung dafür, wie die Vielfalt der chemischen Elemente während der Entwicklung des Universums entstand, warum es exotische Materiezustände gibt („Dipolare Gase“, Seite 92), wieso manche Leiter keinen elektrischen Widerstand haben oder topologische Isolatoren sind (Seite 77).
Die Quantisierung des Verhaltens aller physikalischen Entitäten war ein wichtiger erster Schritt zu einer Vereinheitlichung der Physik und ihres Weltverständnisses, in dem die gefundenen Naturgesetze im Standardmodell auf wenige Wechselwirkungsrelationen zwischen elementaren Quanten zurückgeführt werden können. Es bleibt eine herausfordernde Aufgabe der Physik zu klären, ob auch die Gravitation einen Quantencharakter zeigt (Seite 69) und damit eine einheitliche Beschreibung aller Naturgesetze im Kleinsten und im Größten möglich ist.
Um dieses Standardmodell der Physik besser verstehen und begründen zu können, wurden fundamentale Prinzipien formuliert wie das Relativitätsprinzip, die unserem Weltverständnis zu Grunde liegen und denen alle Naturgesetze zwischen physikalischen Größen und Entitäten genügen sollten. Die Plausibilität dieser Prinzipien bietet eine gewisse Sicherheit für die Gültigkeit der Naturgesetze. Aber sicher wissen können wir es nicht. Es bleibt eine Aufgabe der Physik, das Standardmodell zu hinterfragen und zu testen (Seite 43). Für diesen Zweck nutzt die Physik deshalb die Möglichkeit der Vorhersage und Überprüfung von Theorien durch Experimente.
Physikalische Vorhersagen: Test und Nutzen des Wissens
Naturgesetze determinieren kein Geschehen, sondern geben ihm nur einen Rahmen vor. Dieser kann genutzt werden, um durch technisch realisierbare Rahmenbedingungen Situationen zu schaffen, in denen Prozesse vorhersehbar ablaufen müssen und Ereignisse mit bestimmten Messwerten erwartbar werden. Treten diese nicht wie erwartet ein, so stimmt entweder die Theorie nicht, oder der Experimentaufbau lässt relevante Randbedingungen außer Acht. Auf dieser Widerlegungsmöglichkeit durch die Faktizität vorhergesagter Ereignisse beruht die Glaubwürdigkeit der Physik. Es ist daher eine zentrale Aufgabe der Physik, immer wieder neue Experimente zu entwerfen, um ihre Aussagen überprüfen und theoretische Annahmen falsifizieren zu können. Nur das, was keinem Experiment widerspricht, kann weiterhin als gültig angenommen werden – immer unter Vorbehalt zukünftiger Experimente.
Der Aufwand für solche Experimente steigt allerdings ständig, wie beim Large Hadron Collider (LHC) am CERN in Genf (Seite 40), und die Datenmenge bei Messungen nimmt gigantische Ausmaße an. Um in immer komplexeren Situationen überhaupt Ereignisse vorhersagen zu können, setzt die Physik zunehmend auf die Unterstützung von Computern (Seite 19), z. B. für immer genauere Wettervorhersagen (Seite 256) oder gar die Berechnung der Entstehung von Sternen, Galaxien und Gravitationswellen (Seite 64). So lassen sich auch Materialien mit völlig neuen Eigenschaften mittlerweile digital entwerfen, bevor sie experimentell realisiert werden (Seite 87). Quantencomputer (Seiten 187, 201 und 277) erlauben dabei völlig neue Arten von Rechnungen (Seite 205).
Die Kontrollierbarkeit von bestimmten Zuständen physikalischer Systeme dient aber nicht nur der Vorhersage von experimentellen Testergebnissen, sondern vor allem dem gezielten Entwurf technischer Geräte für nützliche Aufgaben. Dies hat bereits seit der Industrialisierung mit dem Maschinenbau und der Elektrotechnik wie kaum etwas anderes unsere Gesellschaft verändert. Heute werden völlig neue physikalische Effekte technisch anwendbar, wie z. B. die Leitung und Kontrolle von Licht in Metamaterialien nicht nur für Glasfasertechnologien (Seite 80), oder die Konstruktion neuer Medizingeräte zur Diagnose und Therapie (Seite 224). Mit der Kontrolle der Kohärenz und Verschränkung von Quanten eröffnen Physiker:innen mit der Quantentechnologie gerade völlig neue Wege für die Ingenieurskunst. So dienen etwa Quantensensoren der Messung kleinster Veränderungen (Sei-te 207), was bereits in Fahrzeugen und Haushaltsgeräten zum Einsatz kommt (Seite 175). Die Abschätzung der Folgen dieser völlig neuen Techniken für die Gesellschaft gehört zentral zur Aufgabe der Physik und ist Grundlage ethischer Entscheidungen über ihre Akzeptanz (Seite 319). Die Physik tritt daher auch in einen ständigen Dialog mit der Gesellschaft (Seite 333), macht ihr Wissen bekannt und berät Politik und Zivilgesellschaft (Seite 329).
Vielfalt der Phänomene: Kollektives Verhalten
Das Mögliche ist bei Weitem noch nicht ausgelotet. Das Erstaunlichste an der Physik ist wohl ihre Fähigkeit, die ungeheure Vielfalt an Phänomenen begreifbar zu machen (Seite 73). Mit nur einer Handvoll fundamentaler Gesetzmäßigkeiten und elementarer Teilchen kann sie beispielsweise die Bewegung von Planeten in Sonnensystemen fern der Erde erklären und dort nach Hinweisen auf Leben suchen (Seite 281). Auch die Komplexität der irdischen Prozesse lässt sich mithilfe der Physik zunehmend besser erfassen (Abschnitt „Unsere Erde“ ab Seite 102), sodass wir zum Beispiel verstehen, wie sich das Klima der Erde in Zukunft durch unsere menschlichen Eingriffe verändert (Seite 120 und Seite 237).
Doch nicht nur die unbelebte Natur ist Gegenstand der Physik: Durch die ungeheure Anzahl von Ereignisprozessen in der Welt, durch ihre Wechselwirkungen entsteht eine Vielfalt und Komplexität der Phänomene, die unser Leben überhaupt erst ermöglicht – Effekte der Selbstorganisation führen zu zellulärer und aktiver Materie (Abschnitt „Physik und Leben“ ab Seite 131). Diese beruhen auf kollektiven Effekten vieler Teilchen, die emergente Phänomene wie feste und flüssige Phasen der kondensierten Materie hervorbringen (Seite 29) und unglaublich komplexe, dynamische Strukturen der Materie fernab von thermodynamischen Gleichgewichtssituationen ermöglichen (Seite 31). So zeigt selbst das soziale Verhalten vieler Menschen beim Verkehr, bei Epidemien oder an der Börse kollektive Effekte, die sich mit den Methoden der Physik beschreiben lassen (Seite 242). Solche komplexen Prozesse können mit dem physikalischen Weltverständnis in ihren Strukturen und Gesetzmäßigkeiten begriffen werden. Weil aber Naturgesetze nicht determinieren und die technische Kontrolle von Zuständen in komplexen Systemen in der Regel nicht möglich ist, bleiben individuelle Situationen und einzelne Schicksale von Menschen durch Physik nicht verstehbar. Aber zu wissen, was prinzipiell möglich ist und was nicht, ist für unser Welt- und Selbstverständnis unabdingbar. Hierzu tragen physikalische Erkenntnisse wesentlich bei.