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Die Welt der Materie

Klötzchenspiel mit kalten Atomen

Atome einzeln kontrollieren zu können, ist nicht nur ein Wunsch von Materialwissenschaftler:innen. Es ermöglicht, Quantenmaterialien genau zu untersuchen, zu erzeugen und in Zukunft auch technisch zu nutzen.

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Ließe sich Materie Atom für Atom beliebig zusammensetzen, so könnte man aus den nahezu unendlich vielen Möglichkeiten die Konfigurationen mit den besten Eigenschaften für bestimmte Anwendungen auswählen – zum Beispiel die besten Supraleiter, die besten Magnete oder die besten Wärmeleiter.

Die größten Chancen, Atome und ihre Wechselwirkungen zu kontrollieren, hat man bei sehr kalten Atomen – denn diese bewegen sich von selbst nur wenig. Zuerst gelungen sind der Nachweis und die Kontrolle einzelner Atome deshalb in einem kalten Tunnelmikroskop, einem Gerät, das den quantenmechanischen Tunneleffekt ausnutzt, um einzelne Atome auf Oberflächen nachzuweisen. Atome lassen sich damit auch von der Oberfläche abtrennen und verschieben. Solch ein kaltes Tunnelmikroskop wird in der Regel bei Temperaturen von einigen 10 Millikelvin betrieben.

Die Fortschritte in der Atom- und zunehmend auch der Molekülphysik in den letzten Jahrzehnten ermöglichen mittlerweile Temperaturen, die noch viel dichter am am absoluten Temperaturnullpunkt (0 Kelvin) liegen. Dort kommt die thermische Bewegung von Teilchen in einem Gas beinahe zum Stillstand. Einzelne Atome aus diesen Gasen lassen sich mithilfe von Licht kühlen, einfangen, positionieren und nachweisen.

Die makroskopischen Eigenschaften von Quantenmaterie sind durch quantenphysikalische Phänomene bestimmt, wie zum Beispiel die Supraleitung. Es gibt Quantenmaterie, die aus Teilchen mit halbzahligem Spin besteht (fermionische Quantenmaterie) und solche aus Teilchen mit ganzzahligem Spin (bosonische Quantenmaterie), wie etwa Atome mit gerader Neutronenzahl. Ein Beispiel für synthetische Quantenmaterie sind Bose-Einstein-Kondensate – ein Aggregatzustand von Bosonen, die nicht mehr voneinander unterscheidbar sind und einen gemeinsamen Quantenzustand einnehmen. Eine daraus resultierende Eigenschaft dieser Quantenmaterie ist die Suprafluidität, also der Verlust der inneren Reibung einer Flüssigkeit. Im Bereich der fermionischen Quantenmaterie sind Fermi-Gase zu nennen, die wie die Elektronen in einem Metall leitende oder isolierende Materiezustände bilden können.

Anders als beim Tunnelmikroskop, wo die Atome wie klassische Teilchen hin- und hergeschoben werden, erlaubt es diese berührungslose Methode, Atom für Atom synthetische Quantenmaterie aufzubauen, denn da die Atome nicht „angefasst“ werden, behalten sie ihre delokalisierten Quantenzustände unter bestimmten Bedingungen bei. So lässt sich nicht nur die geometrische Anordnung der Atome kontrollieren, sondern auch die Wechselwirkung zwischen ihnen. Es lassen sich lokale, langreichweitige, richtungsabhängige, zeitlich schaltbare, starke und schwache Wechselwirkungen realisieren, um synthetische Quantenmaterialien zu erschaffen und zu erforschen.

Typische Atome, die in solchen Experimenten zum Einsatz kommen, sind Alkaliatome wie Rubidium oder Erdalkaliatome wie Calcium, aber auch Edelgase wie Helium oder seltene Erden. Normalerweise verklumpen Stoffe aus diesen atomaren Spezies nahe am Temperaturnullpunkt zu Festkörpern. Die Methode der Laserkühlung erlaubt es jedoch, die synthetischen Quantenmaterialien lange genug gasförmig zu halten, um sie zu untersuchen. Um den Übergang zu einem Festkörper möglichst lange hinauszuzögern, werden die mittleren Abstände zwischen den Atomen größer als 100 Nanometer gehalten – das ist mehr als hundertmal so weit voneinander entfernt wie in einem echten Kristall. Die Quanteneffekte zeigen sich trotzdem, denn die Materiewellenlänge kann viel größer werden als der Abstand zwischen den Atomen. Diese synthetischen Quantenmaterialien können die Untersuchung der Eigenschaften und der einzelnen Effekte auf eine sehr saubere, gut definierte und reproduzierbare Weise ermöglichen.

Die Kühlung von Molekülen hin zum Quantenregime ist experimentell wesentlich anspruchsvoller als die Kühlung von Atomen. Das liegt daran, dass bereits einfachste Moleküle aus nur zwei Atomen von Natur aus vibrieren oder rotieren. Man muss sie also nicht nur an einem Ort einfangen, sondern sie auch an der Rotation und Vibration hindern. Die üblichen Techniken für die Atomkühlung sind dafür allerdings nicht ausgelegt.

Dieses Problem lässt sich umgehen, indem man zunächst zwei Sorten Atome soweit abkühlt, dass die Quanteneffekte dominieren, und dann aus Paaren dieser bereits ultrakalten Atome ultrakalte Moleküle baut. Diese Technik ist sehr erfolgreich und hat bereits zur Erzeugung der ersten Molekülgase im Quantenregime geführt. Sie ist jedoch auf solche Moleküle beschränkt, die aus Atomen bestehen, die sich selbst kühlen lassen. Das sind in der Regel Moleküle aus zwei Alkali-Atomen. Der zweite Ansatz besteht in dem Versuch, eine Vielzahl chemisch unterschiedlicher Moleküle genau wie Atome direkt mit Lasern zu kühlen. Dies funktioniert nicht mit allen Molekülen. Aber durch eine geschickte Auswahl der internen Zustände und günstigen Eigenschaften in der Molekülstruktur lassen sich nicht nur viele zweiatomare, sondern mittlerweile auch polyatomare molekulare Gase abkühlen, einfangen und in optischen Pinzetten Molekül für Molekül manipulieren. Optische Pinzetten sind stark fokussierte Laserstrahlen, die es erlauben, einzelne Atome oder Moleküle festzuhalten. So lassen sich beispielsweise einfachste chemische Reaktionen zwischen genau zwei Molekülen in definierten Quantenzuständen beobachten. Mit der Dipol-Dipol-Wechselwirkung lassen sich die Moleküle in zwei solcher Pinzetten sogar miteinander verschränken. Eine weitere Kontrolle dieser Vorgänge ist durch zusätzliche externe Felder (z. B. Mikrowellen oder Magnetfelder) möglich, welche die chemischen Reaktionen verändern oder sogar verschwinden lassen. Im zweiten Fall lassen sich dann aus Molekülen, genau wie aus Atomen, stabile Gase im Quantenregime erzeugen und für die Erzeugung neuer Materiezustände verwenden.

Wechselwirkungen neutraler Atome

Die stärksten im Labor realisierten Wechselwirkungen zwischen neutralen Atomen erhält man durch sogenannte Rydberg-Zustände. Diese Zustände, benannt nach dem schwedischen Physiker Johannes Rydberg, sind dadurch gekennzeichnet, dass sich ein Elektron aus der Atomhülle in einer energetisch hoch angeregten Schale verhältnismäßig weit weg vom Kern befindet. In den Laboraufbauten mit lasergekühlten Atomen nahe am absoluten Nullpunkt lassen sich die fragilen Rydberg-Atome so gut kontrollieren, dass sich ein Elektron im Mittel viele Mikrometer vom Atomkern entfernen kann. Verglichen mit einem Atom im elektronischen Grundzustand bedeutet das eine Vergrößerung des Atomdurchmessers um das Zehntausendfache! Rydberg-Atome erreichen also die Größe von Bakterien oder Blutzellen und sind damit Giganten auf atomaren Längenskalen.

Giganten unter den Atomen: Die Rydberg-Atome sind so groß wie rote Blutkörperchen!

Suprafestkörper

In einem Glas Honig liegt eine klassische Mischung von Kristall und Flüssigkeit vor. Es gibt aber auch quantenmechanische Überlagerungen unterschiedlicher Aggregatzustände. Unter einem „Suprafestkörper“ (engl.: supersolid) versteht man einen Materiezustand, der gleichzeitig Eigenschaften eines kristallinen Festkörpers und einer Supraflüssigkeit, bei der keine Reibung der Bestandteile untereinander vorliegt, zeigt. Ein solcher exotischer Zustand konnte erstmalig in dipolaren Quantengasen anhand der charakteristischen Anregungen nachgewiesen werden.

Phasenübergang ausgehend von einem strukturlosen Bose-Einstein-Kondensat (rechts) zu einer Reihe von äquidistanten Tröpfchen (links). Dazwischen (Mitte) kann man den Überlagerungszustand detektieren, welcher in weiteren Messungen alle Eigenschaften eines Suprafestkörpers gezeigt hat. Oben die theoretische Vorhersage, unten die Messung.

Dadurch, dass sich die Elektronen so weit vom Kern entfernen und dadurch nur schwach gebunden sind, können zwei Rydberg-Atome sehr stark miteinander in Wechselwirkung treten. Mit schnellen Laserpulsen lässt sich diese Wechselwirkung an- und ausschalten. Darüber hinaus kann man sogar die Natur der Wechselwirkung einstellen. So lässt sich zum Beispiel sowohl die winkelabhängige Dipol-Dipol-Wechselwirkung erzeugen, als auch die im Raum in allen Richtungen gleiche Van-der-Waals-Wechselwirkung. Anders als bei den magnetischen Atomen und polaren Molekülen haben wir es hier jedoch mit einer Anregung zu tun, die nur einige zehn Mikrosekunden anhält. Im Experiment muss man sich also etwas beeilen.

Dipolare Gase

Kontaktwechselwirkung

Die Wechselwirkung zwischen Atomen ist ein komplexer Vorgang, insbesondere wenn dabei die quantenmechanischen Eigenschaften der Atome berücksichtigt werden müssen. Kühlt man Atome jedoch bis nahe zum absoluten Nullpunkt, bewegen sie sich nicht nur sehr langsam, sondern ihre Wechselwirkung vereinfacht sich auch zu einer sogenannten Kontaktwechselwirkung: Kommen sich zwei Atome nahe, stoßen sie wie klassische Billardkugeln aneinander. Eine solche Wechselwirkung ist also kurzreichweitig und isotrop, also in allen Richtungen gleich. In Bose-Einstein-Kondensaten führt sie beispielsweise zu einer Suprafluidität des atomaren Gases.

Wenn ein Bose-Einstein-Kondensat (BEC) in schnelle Drehung versetzt wird, treten Wirbel in das Kondensat ein und ordnen sich in einem regelmäßigen Gitter (Abrikosov-Gitter) an. In diesem Falschfarbenbild, das entlang der Drehachse aufgenommen wurde, entspricht jeder dunkle Fleck im Kondensat dem atomfreien Kern eines einzelnen Wirbels. Die sechseckige Anordnung der Wirbel ist deutlich zu erkennen. Das Auftreten dieser Wirbel ist eine Folge der supraflüssigen Natur eines BEC.
Das heißt, das Gas kann reibungsfrei strömen und bildet bei Rotation quantisierte Wirbel aus. Ob die Kontaktwechselwirkung anziehend oder abstoßend ist, lässt sich dabei sehr einfach durch ein externes Magnetfeld einstellen. Die Eigenschaften der entstandenen Quantenmaterie lassen sich also durch einfaches Drehen eines Knopfes, in diesem Fall an einer Stromquelle zur Kontrolle des Magnetfelds, kontrollieren.

Magnetische Dipol-Dipol-Wechselwirkung

Stark magnetische Atome, wie zum Beispiel die seltenen Erden Dysprosium oder Erbium, verhalten sich zusätzlich zur Kontaktwechselwirkung selbst wie winzige Stabmagnete. Sie zeigen deshalb die charakteristischen Konsequenzen der langreichweitigen und rich­tungs­abhängigen dipolaren Wechselwirkung. Wenn etwa die atomaren Magnete durch ein äußeres Magnetfeld ausgerichtet werden, so ziehen sie sich an, falls sie sich entlang der Magnetachse treffen. Kommen sie sich hingegen seitwärts nahe, so stoßen sie sich ab.

Durch diese Winkelabhängigkeit dehnt sich ein gefangenes Quantengas entlang des Magnetfelds aus und zieht sich senkrecht dazu zusammen (Magnetostriktion). Ein solches Verhalten von magnetischen Festkörpern ist seit Langem bekannt (und ist zum Beispiel für das Brummen eines elektrischen Transformators verantwortlich), für ein Gas kann der Effekt jedoch erst bei den tiefen Temperaturen in einem Bose-Einstein-Kondensat beobachtet werden.

Werden die Atome durch das Fallenpotenzial so eingeschlossen, dass der anziehende Teil der Wechselwirkung dominiert, kann es auch zu einem Kollaps des Gases kommen. In Fällen, in denen eine abstoßende Kontaktwechselwirkung mit einer anziehenden Dipol-Dipol-Wechselwirkung konkurriert, lässt sich dieser Kollaps durch die stabilisierende Wirkung von Quantenfluktuationen aufhalten, und es bilden sich stabile Tröpfchen, welche auch ohne äußere Kräfte ähnlich wie Wassertropfen gebunden bleiben. Die Dichte dieser Quantentröpfchen ist etwa 100 Millionen Mal niedriger als die von den leichtesten bisher bekannten Tröpfchen aus Helium.

Sieben Quantentröpfchen aus mehreren Tausend ultrakalten Dysprosium Atomen werden in einer harmonischen Falle gefangen.  Das Bild wurde mit einer Phasenkontrastmethode in situ aufgenommen. Die Abstände zwischen den Tröpfchen betragen etwa zwei Mikrometer.
Insbesondere können sich aus mehreren dieser Quantentröpfchen auch wieder periodische Anordnungen ähnlich der Kristallstruktur eines Festkörpers bilden. Der resultierende Suprafestkörper kann entgegen unserer Intuition suprafluid und fest zugleich sein, was nochmals die faszinieren­den Möglichkeiten neuartiger synthetischer Quantenmaterie unterstreicht.

Tim Langen, Silke Ospelkaus und Tilman Pfau

Kalte Atome und Quantencomputer

Die Forschung mit lasergekühlten Rydberg-Atomen hat in den letzten Jahren einen massiven Schub erhalten, als deren Eigenschaften erstmals mit dem Konzept sogenannter optischer Pinzetten kombiniert wurde. Setzt man viele davon ein, so lassen sich Tausende von Atomen gezielt im Raum anordnen und somit große Strukturen aus einzelnen Atomen mit nahezu beliebiger Geometrie aufbauen. Jedes dieser Atome kann dann zum Beispiel als QubitRydberg-Blockadeeffekt zu Nutze. Dieser Effekt entsteht durch die starke Wechselwirkung zwischen benachbarten Rydberg-Atomen und verbietet deren gleichzeitige Anregung, was ein zentraler Grundbaustein für den Aufbau eines universellen Quantencomputers ist.

Die Rydberg-Atome eignen sich ähnlich gut zur Realisierung von Quantencomputern wie jene, die auf gefangenen Ionen oder supraleitenden Qubits basieren. Neben der Implementierung von quantenlogischen Schaltungen lassen sich die Rydberg-Atomanordnungen auch verwenden, um Quantenmaterialien gezielt „nachzubilden“ und deren Phasen und deren Nichtgleichgewichtsdynamik zu studieren. Anders als in den optischen Gittern können die Atome hier allerdings nicht zwischen den optischen Pinzetten hin- und hertunneln. Die Materialien, die somit nachgebildet werden können, sind daher solche mit lokalisierten Elektronen, deren Spins im Kollektiv zum Beispiel einen Quantenmagneten bilden.

Ein weiteres Anwendungsgebiet der lasergekühlten Rydberg-Atome liegt in der Quantenoptik. Hierbei wird wieder der Blockadeeffekt ausgenutzt, der dafür sorgen kann, dass sich Tausende Atome gefangen in einer gemeinsamen optischen Falle zu einem sogenannten „Superatom“ zusammentun. Ein solches Superatom kann dann in einer Art und Weise an eingestrahlte Laserfelder koppeln, dass starke Nichtlinearitäten für einzelne Photonen erzeugt werden. Mit diesem Werkzeugkasten lassen sich dann beispielsweise Lichtschalter für einzelne Photonen bauen, oder logische Operationen zwischen einzelnen Photonen realisieren.

Die immensen Fortschritte in der präzisen Kontrolle einzelner Atome und Moleküle und ihrer Wechselwirkung ermöglichen uns mehr und mehr, Quantenmaterie im Labor Baustein für Baustein zusammenzusetzen und die Eigenschaften der resultierenden Quantensysteme genauestens zu beeinflussen und auszunutzen. Damit werden sowohl ganz neue Einblicke in die hochkomplexe Physik korrelierter Vielteilchensysteme möglich („Modellsysteme für die Quantenwelt“ auf Seite 205) als auch fundamental neue Anwendungen, wie z. B. Quantencomputer basierend auf einzelnen Atomen und Molekülen (auf Seite 187 und ab Seite 199). Dieses eng verzahnte Wechselspiel zwischen Grundlagenforschung in der Quantenmechanik und direkten Anwendungen in der Quantentechnologie wird das Gebiet der ultrakalten Atome und Moleküle auch in den nächsten Jahrzehnten antreiben.

Elektrische Dipol-Dipol-Wechselwirkung und ultrakalte Moleküle

Noch stärkere dipolare Wechselwirkungen lassen sich mit elektrischen Dipolen erreichen. Der elektrische Dipol entsteht in einem Molekül durch die ungleiche elektrische Ladungsverteilung zwischen zwei unterschiedlichen Atomen, ein Atom zieht dabei die Elektronen stärker an sich als das andere. Die dipolaren Wechsel­wirkungs­energien können um ein Vielfaches stärker werden als die Wechselwirkungen zwischen magnetischen Atomen. Auch hier können die Dipole wieder durch ein externes Feld – in diesem Fall ein elektrisches Feld – ausgerichtet werden. Da diese Dipole zunächst entlang der Molekülachsen und diese in einem Gas zufällig ausgerichtet sind, lässt sich mit der Stärke des elektrischen Feldes nun auch die Stärke der Wechselwirkung im Laborsystem extern kontrollieren. Dies liefert einen weiteren Regler, um in Experimenten definierte neue Zustände zu erzeugen.

Sebastian Hofferberth, Tim Langen, Robert Löw, Florian Meinert, Silke Ospelkaus und Tilman Pfau