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Die Welt der Materie

Computerbasiertes Materialdesign

Mit leistungsstarken Computern lassen sich die Eigenschaften eines Festkörpers ausgehend von der atomaren Ebene berechnen. Das trägt nicht nur zu einem besseren Verständnis der Grundlagen bei, sondern ermöglicht die Beschleunigung und Optimierung der Materialentwicklung, was zu rasanten, bahnbrechenden Innovationen für industrielle Anwendungen führen kann.

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Bringt man Atome nahe genug aneinander, so können sie Verbindungen eingehen: Es entstehen Moleküle oder Kristalle. Die Vermittler der jeweiligen Bindungen sind die Elektronen. Das grundlegende Prinzip dabei ist die Minimierung der Energie: Stabile Moleküle und Festkörper befinden sich im Zustand geringster Energie, dem Grundzustand. Aus diesem Grunde kristallisieren Festkörper in der Natur in regelmäßigen Gittern. Je nach chemischer Zusammensetzung bilden sich drei-, zwei- bzw. eindimensionale Systeme heraus.

Mit modernen Syntheseverfahren lassen sich neue Festkörper nach Maß herstellen. Dabei wird Atom für Atom, Atomlage für Atomlage auf den wachsenden Festkörper aufgebracht, um so das Material mit den gewünschten makroskopischen Eigenschaften zu produzieren, welches dann für spezielle elektronische oder mechanische Bauteile verwendet werden kann. Doch auch auf theoretischer Seite ist einiges möglich: Diese Materialien können mithilfe der Grundgleichung der Quantemechanik – der Schrödingergleichung – sehr genau beschrieben werden. Durch Lösen dieser Gleichung lassen sich die Struktur und die elektronischen Eigenschaften beliebiger Festkörper bestimmen und darauf aufbauend die makroskopischen elektrischen, optischen und mechanischen Eigenschaften eines Bauelements verstehen. Allerdings ist das mathematisch nicht immer so einfach, wie es sich vielleicht zunächst anhören mag.

Quantentheorie

Die Quantentheorie (Seite 24) ist die Grundlage der modernen Atom- und Molekülphysik sowie der Festkörperphysik. Ihre Phänomene finden Anwendung in der Quantenoptik, für Quantencomputing und in der Quantenkryptografie.

Die fundamentale Gleichung der Quantentheorie ist die Schrödingergleichung, die mithilfe des Hamiltonoperators H einen Zusammenhang zwischen Energie E und Materie für jedes beliebige System herstellt. Die Information über alle beteiligten Teilchen steckt in einer Wellenfunktion ψ. Im Falle eines Festkörpers wird diese Wellenfunktion sehr komplex. Sie ist nur für kleine Systeme bestehend aus einer Größenordnung von 100 Atomen exakt lösbar.

Hψ= Eψ

Dichtefunktionaltheorie

Eine Methode zur mathematischen Lösung der Schrödingergleichung für Systeme mit vielen Elektronen (wie einem Festkörper) ist die Dichtefunktionaltheorie (DFT). Sie geht auf Walther Kohn zurück, der 2006 für diese Entwicklung mit dem Nobelpreis für Chemie geehrt wurde.

Der zentrale Begriff in der DFT ist die Elektronendichte. Sie gibt an, wie die Elektronen im Raum verteilt sind. Im Unterschied zur quantenmechanischen Wellenfunktion, die von den Koordinaten aller Elektronen abhängt, ist die Elektronendichte eine Funktion von nur drei Raumkoordinaten. Das Ziel der DFT besteht darin, die Elektronendichte zu finden, welche die Energie des Systems unter Berücksichtigung aller Wechselwirkungen zwischen den Elektronen sowie den Elektronen mit den Atomkernen minimiert. Diese Elektronendichte gibt dann die tatsächliche Elektronenverteilung im Festkörper an. In Verbindung mit der stetigen Entwicklung der Leistungsfähigkeit von Computern hat die DFT die theoretische Quantenchemie und die Festkörpertheorie auf ein neues Niveau der mikroskopischen Beschreibung gebracht.

Das Wechselspiel zwischen Elektronen und Atomkernen gestattet es, die Positionen der Atomkerne zu finden, die die Energie des Grundzustands minimieren. Mit der resultierenden Anordnung wird das Energieeigenwertspektrum des Systems berechnet, und darauf aufbauend lassen sich die elektrischen, optischen und mechanischen Eigenschaften untersuchen.

Um darüber hinaus auch magnetische Systeme zu beschreiben, muss man neben der Ladung eines Elektrons auch dessen Spin berücksichtigen. Der Spin kann als Eigendrehimpuls des Elektrons veranschaulicht werden und hat entsprechend der Drehrichtung des Elektrons zwei Einstellmöglichkeiten: Spin auf und Spin ab. Mit dem Spin ist ein magnetisches Moment verbunden. In nichtmagnetischen Festkörpern ist die Zahl von Spin-Auf- und Spin-Ab-Elektronen gleich. In der Summe entsteht also kein magnetisches Moment. In magnetischen Systemen besitzen mehr Elektronen die eine als die andere Spinrichtung. Infolgedessen bilden sich magnetische Momente an den atomaren Positionen aus. Die magnetischen Momente treten miteinander in Wechselwirkung, was zur Energie des Systems beiträgt.

Abhängig von der chemischen Zusammensetzung der Festkörper dominieren verschiedene magnetische Konfigurationen im Grundzustand, beispielsweise die ferromagnetische, in der alle magnetischen Momente in die gleiche Richtung zeigen, oder die antiferromagnetische, in der die magnetischen Momente benachbarter Atome antiparallel orientiert sind. Neben der sogenannten kollinearen magnetischen Konfiguration kann es auch energetisch günstig sein, wenn benachbarte magnetische Momente gegeneinander verkippt sind. Ein prominentes Beispiel für eine derartige nicht-kollineare Konfiguration sind Skyrmionen (Seite 81).

Stabile nicht-kollineare Verteilungen der Spin-Ausrichtungen sind solche magnetischen Wirbel. Je nach Anordnung der Spins werden sie als Néel-Skyrmion (links) oder Bloch-Skyrmion (rechts) bezeichnet. An jedem Gitterplatz ist ein magnetisches Moment lokalisiert und hier durch einen Pfeil dargestellt.

Kombination von klassischen und quantenmechanischen Simulationen

Bei der Suche nach dem Grundzustand eines Festkörpers unter Berücksichtigung seiner atomaren und elektronischen Struktur wird das System am absoluten Temperaturnullpunkt betrachtet. Den Einfluss der Temperatur zu simulieren, ist jedoch auch wichtig. Dazu wird die Dichtefunktionaltheorie mit klassischen Simulationsmethoden wie Molekular­dynamik, Monte-Carlo-Simulationen und Modellen der Kontinuumsmechanik verbunden. Diese Techniken erlauben es, neben der atomaren Struktur sowie den mechanischen, elektrischen und magnetischen Eigenschaften nun auch die thermischen Eigenschaften von Materialien zu betrachten.

Durch den Einsatz von Computersimulationen lassen sich komplexe Materialsysteme analysieren. Das ermöglicht Vorhersagen, wie diese Systeme auf äußere Einflüsse wie Temperatur, Druck und anderen Umweltbedingungen reagieren, um experimentelle Untersuchungen zu motivieren und zu ergänzen. Die Ergebnisse computerbasierter Simulationen können helfen, neue Materialien zu entwerfen und bestehende Materialien zu optimieren. Zum Beispiel können sie bei der Entwicklung von leichten und doch starken Materialien für den Einsatz in der Luft- und Raumfahrt oder bei der Verbesserung der Effizienz von Solarzellen und Batterien helfen.

Darüber hinaus trägt die computerbasierte Materialphysik zur Grundlagenforschung bei, indem sie Einblicke in physikalische Mechanismen und Phänomene auf atomarer Ebene liefert. Sie kann auch dazu beitragen, grundlegende Fragen der Materialwissenschaft zu beantworten, zum Beispiel nach dem Verhalten von Materialien in extremen Umgebungen wie Hochtemperatur- und Hochdruckbedingungen.

Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) werden in zunehmendem Maße an Bedeutung gewinnen, um gigantische Mengen von Materialdaten zu analysieren. Auf der Grundlage dieser Daten können KI-Algorithmen wie maschinelles Lernen und neuronale Netze trainiert werden, um Modelle für das Materialverhalten unter verschiedenen Bedingungen zu erstellen oder neue, bisher unbekannte Materialien mit gewünschten Eigenschaften zu entwerfen. So kann computerbasiertes Materialdesign den Designprozess beschleunigen und die Anzahl der benötigten Experimente auf dem Weg zum Wunschmaterial reduzieren.

Ingrid Mertig