Bleistift, Klebeband, Nobelpreis
Einzelne Atomlagen voneinander lösen, und das mit bloßen Händen? Was wie eine unmögliche Aufgabe klingt, hat vermutlich jedes Schulkind schon tausendfach unbewusst getan: bei jedem Bleistiftstrich. Bleistiftminen bestehen aus Grafit, einem geschichteten Material: Jede einzelne Atomlage besteht aus stark (kovalent) aneinander gebundenen Kohlenstoffatomen, während benachbarte Lagen nur über die schwache Van-der-Waals-(vdW)-Wechselwirkung aneinandergekoppelt sind. Reibt man diesen Schichtstapel über eine Oberfläche, schälen sich nach und nach Schichten ab, im Extremfall sogar nur einzelne Atomlagen.
Mit viel Fantasie, Geschick und Klebeband konnte dieser Abschälprozess vor etwa 20 Jahren soweit verbessert werden, dass einzelne Atomlagen von Grafit, das Graphen, gezielt auf Oberflächen aufgebracht und untersucht werden konnten. Dabei zeigten sich so erstaunliche mechanische und elektronische Eigenschaften, dass die Entdecker von Graphen mit dem Physik-Nobelpreis 2010 geehrt wurden. Mit dieser Entdeckung wurde ein neues Kapitel der Festkörperphysik eingeläutet, und weltweit wird intensiv an zweidimensionalen Kristallen geforscht. Noch immer ist Klebeband ein wichtiges Handwerkszeug dieser Forschung.
Graphen – wenn Bleistifte und Grundlagenforschung die Zukunft gestalten

Wir alle kennen Kohlenstoff aus unserem Alltag – in verschiedenen Gitterformen kommt er als Grafit, Diamant oder Kohle vor. Bei Graphen dagegen sind die Atome nicht dreidimensional, sondern zweidimensional in Sechsecken angeordnet: eine einzige Atomlage Kohlenstoff.

Die Entdeckung von Graphen im Jahr 2004 brachte den Physikern Andre Geim und Konstantin Novoselov den Nobelpreis ein. Sie hatten es geschafft, dieses ultradünne Material „mit Bleistift und Klebeband“ herzustellen und seine herausragenden Eigenschaften zu untersuchen: das dünnste Material der Welt, stärker als Stahl, eine bessere elektrische Leitfähigkeit als Kupfer, ein hervorragender Wärmeleiter, dabei flexibel, nahezu transparent und undurchlässig für Flüssigkeiten und Gase.

Auch die Elektronen in Graphen haben besondere Eigenschaften: In der Honigwabenstruktur bewegen sie sich, als hätten sie keine Masse. Das ist bedingt durch ihre bemerkenswerte lineare Bandstruktur, mathematisch äquivalent zu der Beschreibung ultraschneller relativistischer Teilchen mittels der Dirac-Gleichung – wobei Graphen-Elektronen nur etwa 300-mal langsamer sind als die Lichtgeschwindigkeit. Die daraus resultierenden sehr robusten Quanten-Hall-Zustände sind für die Metrologie insbesondere seit der Neudefinition des SI-Systems im Mai 2019 sehr wertvoll (siehe Seite 209).
Die Realisierung exotischer Quantenphänomene im Labor, elegante, theoretische Beschreibungen und das Potenzial für vielfältige Anwendungen – Graphen hat den Weg in die zweidimensionale Welt geebnet.
Der zweidimensionale Zoo
Grafit ist nicht das einzige geschichtete Material, wir kennen bereits Tausende von Kristallen mit ähnlicher Struktur. Inzwischen sind für alle Arten von Festkörpern, wie beispielsweise Isolatoren, Metalle, Halbleiter, Supraleiter oder Ferromagneten, zweidimensionale Materialien bekannt. In vielen Fällen ändern sich dabei die Materialeigenschaften drastisch, wenn sich die Anzahl der Lagen ändert.
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür sind halbleitende Übergangsmetall-Dichalcogenide wie Molybdänsulfid (MoS2) und Wolframdiselenid (WSe2). Diese Materialien sind schon seit Jahrzehnten bekannt, MoS2 ist ein natürlich vorkommendes Material und ein gängiges Additiv für Motoröle. Dicke Schichten dieser Materialien sind indirekte Halbleiter, so wie etwa Silizium. Erstaunlicherweise ändert sich das für einzelne Monolagen. Sie werden zu direkten Halbleitern und zeigen starke Photolumineszenz. Außerdem absorbieren sie ungewöhnlich viel Licht und könnten dadurch Solarzellen mit minimalem Materialeinsatz und hoher Ausbeute ermöglichen. Zweidimensionale Materialien bieten eine Vielzahl weiterer attraktiver Eigenschaften: Sie sind transparent, flexibel und dehnbar. Definitionsgemäß bestehen sie nur aus Oberflächen und können dementsprechend sehr stark mit ihrer Umgebung in Wechselwirkung treten. Damit sind sie auch sehr interessant für die Sensorik und können neuartige Anwendungen ermöglichen. So wurden bereits Sensoren aus Graphen demonstriert, die wie ein Abziehtattoo auf die Haut geklebt werden und dort Temperatur und Feuchtigkeit messen können.

Wie beim Quanten-Hall-Effekt sind auch bei topologischen Isolatoren die Randzustände und Quantisierungsphänomene eine direkte Folge ihrer topologischen Bandlücke. Elektronen können sich in diesen Zuständen entlang des Rands bzw. der Oberfläche eines topologischen Isolators bewegen, wobei die Orientierung ihrer Spins fest an ihre Bewegungsrichtung gekoppelt ist: Elektronen, die sich in entgegengesetzten Richtungen bewegen, haben auch entgegengesetzt orientierte Spins. Dieses Phänomen schützt die Randelektronen – ähnlich zum Quanten-Hall-Effekt – vor Rückstreuung: Einmal in Bewegung gesetzt, bewegen sie sich ungebremst weiter.
Topologische Eigenschaften treten auch in anderen Materialklassen auf. In topologischen Metallen erzwingt die Topologie beispielsweise, dass der Lückenvektor h⃗(p⃗) an einem bestimmten Impuls p⃗ verschwindet. Topologische Supraleiter sind ein weiteres Beispiel: Trotz ihrer perfekten elektrischen Leitfähigkeit ähneln sie Isolatoren in der Hinsicht, dass sie ebenfalls eine Energielücke für elektronische Anregungen besitzen. Bei einem topologischen Supraleiter wird diese Lücke an der Oberfläche des Materials durch Zustände gefüllt, die ungewöhnliche Eigenschaften besitzen: Sie verhalten sich in einem bestimmten Sinn wie Teilchen, die man als ihr eigenes Antiteilchen auffassen kann. Diese Zustände werden als „Majorana-Moden“ bezeichnet, weil ihre mathematische Beschreibung große Ähnlichkeiten mit der von sogenannten Majorana-Fermionen besitzt, hypothetischen Elementarteilchen aus der Hochenergiephysik, die in der Tat ihr eigenes Antiteilchen darstellen. Jenseits von elektronischen Quantenmaterialien können topologische Phasen aber auch in photonischen und mechanischen Systemen sowie in elektrischen Schaltkreisen erzeugt werden .
Flachstapeln
Die Möglichkeiten zweidimensionaler Materialien potenzieren sich durch ihre Kombination. Im Unterschied zu herkömmlichen Festkörpern, die sich nicht so einfach miteinander verbinden lassen, können verschiedene zweidimensionale Kristalle mit einfachen Methoden übereinandergestapelt werden, ohne dass auf unterschiedliche Gitterkonstanten oder Kristallsymmetrien Rücksicht genommen werden muss. Dabei kommt es zu einer elektronischen Wechselwirkung zwischen den Lagen.
Mit den so entstehenden Heterostrukturen können alle üblichen elektronischen Bauelemente wie Transistoren, Photodetektoren, Leuchtdioden oder Solarzellen realisiert werden. Diese können sogar auf Substraten wie etwa biegbaren transparenten Folien aufgebracht werden, ohne ihre Funktionalität einzubüßen. Daraus sind zukünftig ganz neue Anwendungsmöglichkeiten wie aufrollbares elektronisches Papier oder mit Solarzellen beschichtete Rucksäcke denkbar. Diese neuartigen vdW-Schichtstrukturen zeichnen sich aber nicht nur durch zukunftsweisende Anwendungsmöglichkeiten aus, sondern zeigen auch nach wie vor spannende und teils überraschende grundlegende Eigenschaften, die es zu erforschen und verstehen gilt. Werden zwei Lagen übereinandergestapelt, so ist die Stärke der Wechselwirkung zwischen den Lagen nicht zwingend für alle elektronischen Zustände gleich ausgeprägt, sondern hängt stark von deren Energie und Impuls ab. So kann es sein, dass sich für elektronische Zustände mit einer bestimmten Energie und einem bestimmten Impuls die Schichten nahezu unabhängig erscheinen und für eine minimal andere Energie mit verändertem Impuls die Wechselwirkung zwischen den Lagen so stark ist, dass die elektronischen Zustände nicht mehr einer Lage zuzuordnen sind. Das Schichtsystem verhält sich wie ein neues künstliches Material. Das Besondere ist, dass es dadurch möglich wird, die Vorzugsrichtung von dynamischen Eigenschaften wie Ladungs- und Wärmetransport in der Ebene und senkrecht dazu zu beeinflussen.
Physik mit Twist
Die Möglichkeiten die Materialeigenschaften durch Materialkombinationen und Stapelfolgen maßzuschneidern, erscheinen grenzenlos. Damit aber nicht genug. Die vdW-Wechselwirkung zwischen den einzelnen Lagen ermöglicht einen weiteren Freiheitsgrad – den Rotationsfreiheitsgrad, also den Twist genannten Winkel zwischen zwei gleichen oder unterschiedlichen Lagen. Dass dieser Twist, der zunächst wie ein vernachlässigbares Detail erscheint, höchst relevant ist, war sehr schnell für Graphen in Kombination mit hexagonalem Bornitrid klar. Dieses wurde zunächst als sehr reines ultraflaches, isolierendes vdW-Material und somit perfektes Trägermaterial für Graphen verwendet.
Jedoch zeigte sich schnell, dass sich die Graphen-Ladungsträger in Sandwichstrukturen mit einem Twist nahe 0° anders verhalten als bei anderen Drehwinkeln: In Anwesenheit eines senkrechten Magnetfelds, wie es auch der Quanten-Hall-Effekt (Seite 78) erfordert, wird ein fraktales, selbstähnliches Spektrum der nicht wechselwirkenden zweidimensionalen Elektronen beobachtet. Dieses als „Hofstadters Schmetterling“ bekannte Diagramm resultiert aus Elektronen in einem periodischen Gitterpotenzial.
Diese periodische Modulation der niederenergetischen Energielandschaft folgt aus der Überlagerung der beiden hexagonalen Kristallgitter von hexagonalem Bornitrid und Graphen mit nur 1,8% Unterschied der Gitterkonstanten. Das so entstehende Moirémuster ist wieder ein hexagonales Gitter mit größerer Gitterkonstante, welches die periodische Modulation bewirkt. Moirémuster kennen wir alle aus unserem Alltag, wenn sich beispielsweise zwei gewebte Gardinen leicht überlagern oder wenn mit einer Handykamera ein Bildschirm abfotografiert wird. Das überlagerte Rechteckmuster im letzteren Beispiel entsteht aus der Überlagerung der Pixel des Chips der Kamera und der Pixel des Bildschirms.

Ein Moirémuster entsteht auch, wenn zwei Graphenlagen leicht verdreht aufeinandergestapelt werden. Bei verdrehtem („twisted“) Bilagengraphen (TBL) mit einem Twist von etwa 1,1° werden teils exotische Quantenphänomene beobachtet. Das Moirémuster zwingt die Elektronen dazu, sich erheblich zu verlangsamen. Die Elektronen werden schwerer und können dichter zusammen sein. Dadurch treten sie nun intensiv miteinander in Wechselwirkung, was zu stark korreliertem Verhalten führen kann. Die Elektronen spüren sich also gegenseitig, und es kann durch starke Korrelation passieren, dass in der Nachbarschaft eines Elektrons ein Moiré-Gitterplatz aufgrund von Coulomb-Abstoßung nicht besetzt werden kann. Das ansonsten äußerst gut leitende Graphen wird somit zu einem korrelierten Isolator. Abhängig von der Anzahl der Elektronen in diesen TBL ändert sich die Korrelation und es können weitere emergente Quantenphänomene wie Supraleitung oder magnetische Ordnungsphänomene auftreten.
Nicht nur verdrehtes Graphen, sondern auch andere verdrehte zweidimensionale Materialien zeigen dieses Verhalten. Beispielsweise ist auch für verdrehte Halbleiterbilagen wie tWSe2 stark korreliertes Verhalten vorhergesagt und wird intensiv erforscht. Da halbleitende Materialien gebundene Elektron-Loch-Paare – Exzitonen – beheimaten, können diese Quasiteilchen im Moirémuster gefangen werden. Diese Exzitonen verhalten sich dann wie in einem nulldimensionalen Quantentrog und zeigen beispielsweise Einzelphotonenemission. Dies ist an sich schon spannend, da nun periodische Netzwerke von Einzelphotonenemittern erzeugt werden können. Zudem ermöglichen sich so neuartige Anwendungen im Bereich der Quantentechnologie.
Es gibt auch Materialkombinationen und Twistwinkel, bei denen das Moirémuster keine Rolle spielt, dennoch können in diesen Schichtstrukturen interessante Phänomene erforscht werden. Da Exzitonen bosonische Quasiteilchen sind, sind Ensembles von langlebigen Exzitonen in vdW-Bilagen geeignete Kandidaten, um exzitonische Bose-Einstein-Kondensation zu untersuchen. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, bei dem alle Teilchen in den Grundzustand kondensieren und eine makroskopische Wellenfunktion, also einen gemeinsamen Zustand, ausbilden und nicht mehr als einzelnes Teilchen existieren. Aufgrund des Pauli-Prinzips ist dies für Fermionen, also Elektronen und Löcher, alleine verboten.
Diese spannenden grundlegenden Eigenschaften, aber auch das große Anwendungspotenzial von zweidimensionalen Kristallen und deren Kombination in Schichtstrukturen erfordern zum einen Kristalle hoher Qualität und zum anderen skalierbare Herstellungsmethoden.

Herausforderungen
In der Grundlagenforschung wird meist noch die von den ersten Arbeiten bekannte Klebebandmethode, kombiniert mit verschiedenen mikromechanischen Stapelmethoden, verwendet. Die als Ausgangsmaterial genutzten, meist künstlich gezüchteten Volumenkristalle sind in hoher Qualität verfügbar, und diese Methode erlaubt einen hohen Freiheitsgrad an Materialkombination und Design, ist aber in keinem Fall skalierbar.
Um die Herausforderung der Skalierbarkeit bei der Herstellung zu meistern, gibt es zwei Hauptpfade: In einem „Top-Down“-Ansatz werden vdW-Volumenkristalle mit mechanischen und (elektro-)chemischen Methoden in kleine, ultradünne Kristallite zerlegt und in Lösungsmittel konzentriert. Diese Lösungen können in Tintenstrahl- oder auch Sprühverfahren aufgebracht werden, sodass sich dünne Filme mit einem dichten Netzwerk an zweidimensionalen Kristalliten bilden. Unter Verwendung verschiedener Materialien können so funktionale Bauelemente einfach und kosteneffizient hergestellt werden. Diese Herstellungsmethode erfüllt aber oft nicht die erforderlichen Anforderungen an die elektronischen und optischen Eigenschaften.
In diesem Fall kommen ähnliche Bottom-Up-Verfahren zum Einsatz, wie sie in der Halbleiterindustrie derzeit in Verwendung sind. Das Wachstum von atomar dünnen Kristallen ist eine Herausforderung, da keine chemischen Verbindungen zum Substrat gewünscht sind, sich aber dennoch möglichst ein homogener Film ohne Korngrenzen und anderen Defekten ausbilden soll. Aber auch hier schreitet die Entwicklung schnell voran: Seit 2020 gibt es im hierzu gegründeten Graphene-Flagship-Programm der Europäischen Union eine Pilotlinie, die den Aufbau eines Ökosystems für integrierte 2D-Materialien in der Halbleiterindustrie vorantreiben soll. So konnte der Herstellungspreis für Graphen mittels chemischer Gasphasenabscheidung soweit gesenkt werden, dass kommerzielle Anwendungen möglich werden. Ähnliche Verfahren für die Herstellung in Wafergröße werden derzeit beispielsweise für zweidimensionale halbleitende Übergangsmetall-Dichalkogeniden etabliert.
Fazit
Eine kommerzielle Anwendung von zweidimensionalen Materialien in der nahen Zukunft erscheint möglich. Ob die etablierte und hochspezialisierte Siliziumtechnologie durch zweidimensionale Materialien ersetzt wird oder ob sich zuvor Anwendungen durchsetzen, bei denen die Materialien ihre besonderen Eigenschaften wie Flexibilität, Transparenz, hybride Integration sowie starke Licht-Materie-Wechselwirkung und einstellbares korreliertes Verhalten voll und ganz ausspielen können, ist offen. Neben dem gesellschaftlich und insbesondere ökologisch höchst relevanten Thema der solaren Energieumwandlung und Anwendungen im Bereich der Quantentechnologien sind auch die Umsetzung von neuromorphen Bauteilen und Schaltkreisen denkbar.
Zweidimensionale Materialien und Materialkombinationen sind ein höchst aktuelles Forschungsfeld – es liegt in unserer Hand, was wir aus einzelnen Atomlagen bauen. Es bleibt spannend, welche faszinierenden Eigenschaften noch zum Vorschein kommen und wann die ersten zweidimensionalen Bauelemente in der täglichen Anwendung erscheinen und von jedermann käuflich erworben werden können.