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Strom ohne Widerstand

Energie ohne Verluste: Supraleiter könnten die Technik revolutionieren – vom verlustfreien Stromtransport bis zu ultraschnellen Computern. Doch die Forschung steht vor Herausforderungen: Wie kann Supraleitung bei Raumtemperatur gelingen?

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Wenn Strom durch ein Kabel fließt, geht immer ein Teil der Energie verloren. Der Grund dafür ist der elektrische Widerstand, der einen Teil der transportierten Energie in Wärme umwandelt. Es gibt allerdings Materialien, die Strom ohne jeglichen Widerstand leiten können – Supraleiter. Diese faszinierenden Materialien zeigen ihr Potenzial jedoch oft nur bei extrem niedrigen Temperaturen.

Im Jahr 1911 machte der Physiker Heike Kamerlingh Onnes eine bahnbrechende Entdeckung: Als er Quecksilber auf extrem niedrige Temperaturen nahe am absoluten Nullpunkt abkühlte, verschwand der elektrische Widerstand des Metalls plötzlich komplett. Diese Beobachtung legte den Grundstein für die Forschung an Supraleitern. Bereits zwei Jahre später erhielt Kamerlingh Onnes für seine Arbeiten den Nobelpreis für Physik. Doch wie dieser Effekt zustande kommt, blieb fast 50 Jahre lang ein Rätsel.

Die Aufklärung des Phänomens gelang erst in den 1950er Jahren. In metallischen Leitern bewegen sich Elektronen durch ein Kristallgitter. Normalerweise stoßen sie dabei aneinander oder an Defekte im Gitter, was den elektrischen Widerstand verursacht. Doch unterhalb einer kritischen Temperatur (Tc ) geschieht etwas Außergewöhnliches: Je zwei Elektronen finden sich spontan zu Cooper-Paaren zusammen. Diese Paare haben einzigartige quantenphysikalische Eigenschaften und bilden ein Kollektiv, das sich widerstandsfrei durch das Material bewegen kann. Man kann sich das wie eine Kette vorstellen, die Störstellen einfach umgeht.

Konventionelle Supraleiter

Für die Bildung von Cooper-Paaren ist eine Bindungskraft erforderlich, die die elektrische Abstoßung der Elektronen überwiegt. Bei sogenannten konventionellen Supraleitern sind Bewegungen der positiv geladenen Gitterionen für die effektive Anziehung der Elektronen verantwortlich. Zu den konventionellen Supraleitern gehören Elemente wie Quecksilber und Blei sowie metallische Legierungen, die Supraleitung nur bis wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt zeigen. Diese Temperaturen werden durch Kühlung mit flüssigem Helium erreicht, was technisch aufwendig und teuer ist. Trotzdem werden solche Supraleiter bereits in wichtigen Technologien eingesetzt, etwa in Hochfeld-Magneten für Kernspintomografen (Seite 217), für den Large Hadron Collider (Seite 40) oder in Qubits für Quantencomputer (Seite 199).

Entwicklung der maximalen kritischen Temperatur (Tc ) verschiedener Klassen von Supraleitern von der Entdeckung des Phänomens im Jahr 1911 bis zur Gegenwart

Seit den 1950er-Jahren wurden viele neue konventionelle Supraleiter entdeckt, u.a. die Verbindung MgB2 mit Tc = 39 K (−234 °C) im Jahr 2001. Gleichzeitig wurde die theoretische Beschreibung der konventionellen Supraleitung kontinuierlich verbessert, sodass heute verlässliche Vorhersagen der kritischen Temperatur möglich sind. Indem er solchen Vorhersagen folgte, entdeckte der Physiker Mikhail Eremets ab 2015 eine Reihe von Wasserstoffverbindungen mit kritischen Temperaturen bis −23 °C – allerdings nur unter extrem hohem Druck, vergleichbar zum Druck im Erdkern und damit nicht für Anwendungen geeignet. Weltweite Forschungsanstrengungen zielen derzeit darauf hin, durch theoriegeleitete Synthese neuer Supraleiter den erforderlichen Druck systematisch zu reduzieren.

Unkonventionelle Supraleiter

Eine parallele Entwicklung begann im Jahr 1986, als die Physiker Johannes Georg Bednorz und Karl Alexander Müller Supraleitung in einer Klasse von Kupferoxiden entdeckten, in der bis zu diesem Zeitpunkt kaum jemand dieses Phänomen vermutet hätte. Während sich nämlich konventionelle Supraleiter oberhalb von Tc ausnahmslos als gute Metalle verhalten, weisen Kupferoxide nur eine vergleichsweise geringe Leitfähigkeit auf und neigen überdies dazu, isolierende antiferromagnetische Zustände auszubilden. Diese Eigenschaften lassen sich auf eine effektiv sehr starke elektrische Abstoßung zwischen den Elektronen zurückführen. Dennoch erreichen diese „unkoventionellen“ Supraleiter bei Normaldruck kritische Temperaturen deutlich oberhalb vom 100 Kelvin (−173 °C) – mehrfach höher als der Rekord bei konventionellen Supraleitern. Für die bahnbrechende Entdeckung dieser Hochtemperatursupraleiter wurden Bednorz und Müller im Jahr 1987 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Schematisches Phasendiagramm von Kupferoxid-Supraleitern als Funktion der Ladungsträgerkonzentration. Die Skizzen zeigen die antiparallele Ausrichtung benachbarter Elektronenspins im antiferromagnetischen Isolator (AFI) und die periodische Modulation der elektrischen Ladung der Kupferionen in einer Ladungsdichtewelle (LDW). Im Supraleiter (SL) arrangieren sich die Cooper-Paare in einem Quantenzustand mit d-Wellen-Symmetrie.

Seitdem hat die Forschung gewaltige Fortschritte bei der Klärung des Mechanismus der unkonventionellen Supraleitung zu verzeichnen. So hat sich u. a. herausgestellt, dass der Quantenzustand der Cooper-Paare in den Kupferoxid-Supraleitern eine „d-Wellen-Symmetrie“ aufweist – analog zu den d-Orbitalen im Wasserstoff-Atom. Eine solche Symmetrie ist inkompatibel mit dem Mechanismus der konventionellen Supraleitung, der auf Gitterschwingungen beruht. Experimentalphysiker:innen konnten aber mittels Neutronen- und Photonenstreuung nachweisen, dass eine fluktuierende antiferromagnetische Ordnung auch in supraleitenden Kupferoxiden vorhanden ist, und Theoretiker:innen konnten zeigen, dass magnetische Korrelationen dieser Art Cooper-Paare mit d-Wellen-Symmetrie stabilisieren.

Die Theorie der unkonventionellen Supraleiter hat allerdings noch nicht dieselbe Vorhersagekraft wie diejenige für ihre konventionellen Geschwister, denn die starke Wechselwirkung zwischen den Elektronen kann neben der Supraleitung auch noch eine Vielzahl weiterer Ordnungszustände erzeugen. Erst kürzlich wurde in den Kupferoxiden eine periodische Modulation der Ladungsdichte entdeckt, die mit der Supraleitung koexistiert und Tc reduziert. Die quantitative theoretische Beschreibung kollektiver Zustände und Anregungen in stark korrelierten Elektronensystemen und deren wechselseitige Beeinflussung bleibt eine der größten Herausforderungen in der Festkörperphysik.

Auch wenn in der Grundlagenforschung noch wichtige Fragen offen sind, zeigen Anwendungen von Hochtemperatur-Supraleitern bereits ein enormes Potenzial, denn statt flüssigem Helium genügt der wesentlich kostengünstigere flüssige Stickstoff zur Kühlung in den supraleitenden Zustand. Die industrielle Verarbeitung dieser Materialien ist wegen der komplexen, anisotropen Kristallstruktur zwar aufwendig und dementsprechend teuer. Doch die Nachfrage nach supraleitenden Kabeln hat in jüngster Zeit stark zugenommen – u. a. aufgrund massiver Investitionen in die Entwicklung kompakter Kernfusionsreaktoren, die hohe Magnetfelder benötigen. Die zu erwartenden Skalierungseffekte könnten in den kommenden Jahren die Herstellungskosten erheblich senken und damit den Weg zu großflächigen Anwendungen hochtemperatursupraleitender Kabel in der Energie- und Medizintechnik ebnen.

Neue Materialien

Bednorz und Müller leiten die Veröffentlichung, in der sie über die Entdeckung der Kupferoxid-Supraleiter berichten, mit den Worten ein: „An vorderster Front der Supraleitungsforschung steht die empirische Suche nach neuen Materialien.“ Dieses Diktum ist heute so aktuell wie damals. Tatsächlich führte eine Vielzahl von Forschungsansätzen weltweit in den letzten Jahren zur Entdeckung unkonventioneller Supraleitung mit hoher kritischer Temperatur in mehreren Eisen- und Nickel-basierten Verbindungsklassen. Nachdem der chinesische Physiker Meng Wang im Jahr 2023 über eine Nickeloxid-Verbindung berichtete, die unter moderatem Druck bereits durch Kühlung mit flüssigem Stickstoff supraleitend wird, schreitet die Forschung an dieser Verbindungsklasse derzeit besonders rasant voran. Ein langfristiges Forschungsziel bleibt dabei die Entwicklung von Materialien, die Supraleitung bei Normaldruck und Raumtemperatur zeigen, denn wenn keine Kühlung erforderlich wäre, würde sich das Potenzial von Supraleitern für alltagstaugliche Geräte noch einmal vervielfältigen. In Zukunft werden sowohl bei der Optimierung bekannter Supraleiter als auch bei der Exploration neuer Materialklassen verstärkt künstliche Intelligenz und Robotik eingesetzt, wodurch sich die Effizienz der empirischen Suche nach Raumtemperatur-Supraleitern deutlich erhöhen könnte. Beim gegenwärtigen Forschungsstand ist kein allgemeines Prinzip bekannt, das diesem Ziel entgegensteht.

Bernhard Keimer