Magie der Materie
Physikalische Neugier stößt in die Mikrowelt der Elementarteilchen vor, mit beispiellosen Errungenschaften in deren Erzeugung, Nachweis und theoretischer Erklärung. Auf der anderen Seite vermessen Kosmolog:innen das Universum und detektieren Kollisionen Schwarzer Löcher. Zwischen diesen beiden Extremen erstreckt sich eine weitere wichtige, faszinierende und vielschichtige Welt: Die Welt der kondensierten Materie.
Der Begriff „kondensierte Materie“ spielt auf die verschiedenen Aggregatzustände an, die Materie einnehmen kann. Festkörper und Flüssigkeiten werden dabei als „kondensiert“ bezeichnet. Die beiden anderen Aggregatzustände bilden Gase und Plasmen, wobei in letzteren die Elektronen und Atomkerne voneinander getrennt sind.
Auf den ersten Blick erscheint uns Materie vertraut, da sie überall sichtbar um uns herum existiert: der Boden auf dem wir stehen, das Wasser, das wir trinken, und natürlich wir selbst bestehen aus normaler Materie. Aber warum ist Materie so, wie sie ist, und wie lassen sich neue, faszinierende Materialeigenschaften im 21. Jahrhundert maßschneidern?
Grundlagen dafür sind einerseits die Mechanismen der Quantenphysik und andererseits das Phänomen der Emergenz, das heißt die Ausbildung von neuen Eigenschaften eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente (siehe Seite 30). Die wissenschaftliche Beschreibung dieser Konzepte hilft beim Verständnis von Materie und eröffnet attraktive Anwendungsmöglichkeiten, die sich durch die enormen technologischen Fortschritte der letzten Jahre heute ausschöpfen lassen. So lassen sich extrem kleine Strukturen oder Schichten mit der Dicke von nur einem Atom in höchster kristalliner Reinheit herstellen. In nahezu perfekt isolierten Systemen kann das Zusammenspiel der Bestandteile von Materie bis hinab zu einzelnen Atomen genau kontrolliert werden.
Das Gebiet der kondensierten Materie reicht heute von kristallinen Festkörpern und synthetischen Atomgittern über komplexe Fluide (Flüssigkeiten) oder granulare Materie (wie etwa Sand) bis hin zu Bausteinen der belebten Natur. Die Materie und deren erstaunliche Eigenschaften sind doppelt relevant: Die Forschungsbereiche, die sich mit ihren Geheimnissen befassen, stellen den größten Anteil der physikalischen Forschung und Lehre, und sie ist die Basis für praktisch alle technologischen Anwendungen.
Die grundlegenden Konzepte der Elementarteilchenphysik einerseits und der Physik der kondensierten Materie und modernen Atomphysik andererseits haben vieles gemeinsam, unterscheiden sich aber in ihrer Ausprägung. Im Mittelpunkt der Physik der kondensierten Materie stehen nicht die Eigenschaften der einzelnen Bausteine wie Proton, Neutron, Elektron oder Photon, sondern das Wechselspiel zwischen enorm vielen dieser Teilchen.In den großen Anordnungen, die sie in der Materie einnehmen, verlieren die Grundbausteine ihre „elementaren“ Eigenschaften: Tritt ein freies Elektron in ein periodisches Kristallgitter eines Festkörpers und gerät in die Kraftfelder der vielen Gitteratome und anderen Elektronen, so verändert es seine ursprünglichen Eigenschaften wie beispielsweise seine Masse und „spürt“ in Wechselwirkung mit den Kraftfeldern einen Widerstand. Diese geradezu magisch anmutende Translation ist ein Musterbeispiel von Emergenz. Das Elektron wandelt sich unter dem Einfluss des Festkörpers in ein verändertes, neues Teilchen – ein Quasiteilchen. Solche Quasiteilchen existieren auch in anderen Ausprägungen wie Phononen, Exzitonen oder Magnonen. Ihre häufig frappierenden, emergenten Eigenschaften der Materie sind sehr real: Elektrischer Widerstand (mit Phänomenen wie Supraleitung und Quantentransport), Magnetismus, mechanische Stabilität oder Absorption und Emission von Licht sind direkter Ausdruck des mannigfaltigen Wechselspiels der nahezu unzählbar vielen Bestandteile, aus denen Materie besteht. Diese Eigenschaften der kondensierten Materie werden insbesondere in der Nanotechnologie aufgegriffen und zielgerichtet in maßgeschneiderten Materialsystemen und elektronischen Bauelementen eingesetzt, um beispielsweise Computerchips mit immer höherer Leistungsfähigkeit zu entwickeln, und den Weg für neue Anwendungsperspektiven in der Quantentechnologie zu bereiten. In den folgenden Kapiteln dieses Abschnitts werden die faszinierenden Eigenschaften von Materie mit ihren facettenreichen, maßgeschneiderten Funktionen illustriert. Das Spektrum reicht von sogenannten topologischen Quantenmaterialien über atomar dünne funktionelle Schichten und künstliche Atomgitter bis hin zur Lichtwellenelektronik.