WISSEN
Das Kleinste und das Größte

Jenseits des Standardmodells

Das Standardmodell der Teilchenphysik ist zwar extrem erfolgreich, aber trotzdem unzureichend – es beschreibt als die Physik der kleinsten Bestandteile der Materie nicht vollständig alle Phänomene. Neue Experimente begeben sich gezielt auf die Suche nach „neuer Physik“.

Vorabversion

Die experimentelle Teilchenphysik befindet sich seit der Entdeckung des Higgs-Bosons im Jahr 2012 in einer interessanten Situation: Einerseits bestätigen zahllose Messungen an verschiedenen experimentellen Anlagen die Vorhersagen des Standardmodells (SM) der Elementarteilchenphysik mit immer größerer Genauigkeit. Andererseits muss es bislang nicht entdeckte grundlegende Phänomene bei hohen Energieskalen geben. Das ist sicher, denn einige experimentelle Befunde lassen sich mit dem SM nicht erklären oder stehen mit ihm im Widerspruch. So sind Neutrinos im SM per Konstruk­tion masselos, Beobachtungen mit dem Sudbury Neutrino Observatory (SNO) in Kanada zeigten 2001 anhand der Oszillationen solarer Neutrinos aber, dass zumindest zwei der drei postulierten Neutrino-Arten eben doch eine – wenn auch sehr kleine – Masse haben (siehe „Neutrinos: Elementarteilchen mit Überraschungen“, Seite 45).

Weitere offene Fragen im SM ergeben sich aus der Astrophysik und der Kosmologie, z. B. die nach dem Ursprung der geheimnisvollen Dunklen Materie im Universum. Diese wird vom SM nicht erfasst. Möglicherweise ließe sie sich mit der Existenz eines bislang noch unbekannten Elementarteilchens erklären: schwach wechselwirkende massereiche Teilchen, sogenannte WIMPs. Danach wird intensiv experimentell gesucht, z. B. mit deutscher Beteiligung im Gran-Sasso-Labor in Italien. Es könnte aber auch sein, dass die Dunkle Materie aus mehr als einer Teilchenart besteht: aus einem ganzen „Dunklen Sektor“. Auf die Suche danach machen sich Forschende am CERN. Neue Detektoren, wie das FASER-Experiment, sollen nach elektrisch neutralen langlebigen Teilchen suchen, die zum Dunklen Sektor gehören. Mit Experimenten am Bonner ELSA-Beschleuniger, am Mainzer MESA-Beschleuniger und auch am CERN sollen Dunkle Photonen aufgespürt werden. Weitere mögliche Dunkle-Materie-Kandidat sind Axionen – neutrale und besonders leichte hypothetische Elementarteilchen – und andere axionartige Teilchen (ALPS). Hierzu wird eine neue Generation von Experimenten am Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY entwickelt.

Auf der Suche nach Erklärungen

Ein weiteres Rätsel der Kosmologie und damit auch der Elementarteilchenphysik: Wir beobachten im Universum praktisch keine Antimaterie – die Sterne überall im Kosmos, die Planeten und wir sind aus Materie aufgebaut. Wir würden aber erwarten, dass im Urknall gleich viel Materie und Antimaterie entstanden ist. Das hinsichtlich Materie und Antimaterie symmetrische Universum hat sich demnach zu einem asymmetrischen gewandelt. Die für diesen Prozess nötigen Zutaten sind zwar im SM vorhanden, die daraus berechnete Asymmetrie ist aber viel kleiner als die beobachtete. Hier braucht es – wie bei der Dunklen Materie – neue Physik jenseits des SM. Insbesondere müsste die Verletzung der sogenannten CP-Symmetrie (siehe „Teilchen mit Geschmack“ auf Seite 47) – also der Erwartung, dass alle physikalischen Gesetze gleich blieben, wenn man Teilchen und Antiteilchen vertauscht und gleichzeitig die Raumkoordinaten spiegelt – viel deutlicher sein. Hierzu gibt es viele theoretische Vorschläge. Experimentell könnten diese neuen Quellen von CP-Verletzung als ein elektrisches Dipolmoment verschiedener Systeme (Atome, Moleküle, Neutronen, Kerne) beobachtet werden. Auch danach wird momentan sowohl in Speicherringen als auch in Teilchenfallen intensiv gesucht.

Das SM wirft auch in seiner Struktur Fragen auf, die auf neue Physik hinweisen. Die Quarks haben die elektrischen Ladungen +⅔ (up) und −⅓ (down) der Elementarladung. Dadurch hat ein Proton (up-up-down) die Ladung +1. Dagegen hat das Elektron die Ladung −1. Experimentelle Messungen bestätigen, dass die Proton- und die Elektronladung exakt betragsgleich mit entgegengesetzten Vorzeichen sind. Aber warum ist das so? Im SM haben das Elektron und die Quarks zunächst gar nichts miteinander zu tun. Warum sollten ihre elektrischen Ladungen so fein aufeinander abgestimmt sein?

Die große Vereinheitlichung

In der Vergangenheit haben wir gelernt, dass die Schwerkraft auf der Erde sowie die Anziehung zwischen Erde und Mond den gleichen Ursprung haben, die im Newtonschen Gravitationsgesetz (und präziser in der allgemeinen Relativitätstheorie) beschrieben wird. Im 19. Jahrhundert stellte sich heraus, dass Magnetismus und Elektrizität den gleichen Ursprung haben, weil der Magnetismus durch bewegte elektrische Ladungen entsteht. Die Phänomene sind also in einer Beschreibung vereinheitlicht. Lassen sich starke, schwache und elek­tro­ma­gne­ti­sche Kraft in ähnlicher Weise zu einer Kraft vereinheitlichen?

Mathematisch geht das! Interessanterweise sagt solch eine große Vereinheitlichung (GUT) genau die Ladungsquantisierung von Quarks und Elektronen wie beobachtet vorher. Sie sagt außerdem voraus, dass das Proton nicht stabil ist, sondern ganz selten zerfallen müsste – z. B. in ein neutrales Pion und ein Positron. Deshalb wird nach solchen Prozessen zur Zeit experimentell intensiv in sehr großen Experimenten unter der Erde gesucht.

Wenn wir das SM zu einer sogenannten supersymmetrischen Theorie erweitern, treffen sich die Kopplungsstärken der verschiedenen Wechselwirkungen bei sehr hohen Energien. In der Supersymmetrie geht man davon aus, dass sich Teilchen mit ganzzahligem Spin und Teilchen mit halbzahligem Spin ineinander umwandeln lassen. Erst vor dem Hintergrund dieser Theorie ist eine GUT mathematisch konsistent. So eine supersymmetrische Theorie sagt im Prinzip die Entdeckung neuer Teilchen am LHC vorher, allerdings bei unbekannter Energie. Bislang konnte sie experimentell nicht bestätigt werden.

Wenn wir die Kopplungsstärken der drei Kräfte zu hohen Energien projizieren, so treffen sie sich annähernd. Mit der Hinzunahme von Supersymmetrie bei der Extrapolation (gestrichelt) treffen sie sich genau.

Stringtheorie, Gravitation und Streuprozesse am LHC

Jedem Feynman-Diagramm (oben) entspricht genau eine mathematische Formel, auch Amplitude genannt. Um die Wahrscheinlichkeit eines Streuereignisses zu berechnen, muss man alle Amplituden addieren und danach quadrieren. Diese Diagramme kommen in verschiedenen Ordnungen vor. In höherer Ordnung können das auch schnell Tausende von Diagrammen werden. Es ist nun wichtig, den zugrundeliegenden mathematischen Raum dieser Feynman-Diagramme zu verstehen. Erstaunlicherweise ist das wieder solch ein Calabi-Yau-Raum, wie er durch den „Knoten“ unten dargestellt wird. Somit tragen Entwicklungen in der Stringtheorie unmittelbar zur Präzision der Berechnung von Streuprozessen im SM für den LHC bei.

Ein großer Traum der Physik ist die Vereinheitlichung aller vier Grundkräfte in der Natur, wie sie im SM der Teilchenphysik beschrieben sind, zu einer Kraft (siehe Seite 53). Aus mathematischen Gründen unterscheiden sich die starke, die schwache und die elektromagnetische Kraft jedoch grundsätzlich von der Gravitation. Eine mögliche Lösung bietet die Stringtheorie.

In der Quantenfeldtheorie, welche die starke, die schwache und die elektromagnetische Kraft beschreibt, werden die grundlegenden Objekte der Natur, die Teilchen, als mathematische Punkte angenommen. Bei der Stringtheorie nimmt man stattdessen an, dass die grundlegenden Objekte der Natur sehr, sehr kleine Schnüre (engl. strings) und eben keine Punkte sind.

Wenn man eine Theorie solcher Schnüre quantisiert, passieren zwei erstaunliche Sachen. Erstens enthält die Theorie immer ein masseloses Teilchen mit Spin 2. Dies ist genau das Graviton, also das kleinste Quantum der Gravitationswechselwirkung, beziehungsweise das Quantum der kürzlich beobachteten Gravitationswellen. Somit enthält eine quantisierte Stringtheorie immer auch die Gravitation! Es ist auch möglich, die anderen Wechselwirkungen mit einzubauen. Somit stellt die Stringtheorie eine mathematisch konsistente Vereinheitlichung der vier Kräfte in der Natur dar.

Zweitens lässt die quantisierte Stringtheorie sich nur in einem hochdimensionalen Raum mathematisch konsistent formulieren: Konkret sind das zehn, elf oder 26 Dimensionen. Wir beobachten aber nur vier Dimensionen, nämlich die drei Raumdimensionen und die Zeit. Um das in Übereinstimmung zu bringen, können die Dimensionen jenseits der vier, die wir beobachten, nicht wie diese unendlich ausgedehnt sein. Stattdessen schließen sie auf sich selbst wie ein Kreis, und dieser Kreis ist sehr, sehr klein – wir sagen: kompakt. Die Struktur dieser kompakten Extradimensionen, auch Calabi-Yau-Räume genannt, ist sehr reichhaltig und mitentscheidend für die möglichen beobachtbaren Eigenschaften der Stringtheorie bei den experimentell erreichbaren Energien. Leider sind die mathematischen Lösungen auch so vielfältig, dass Stringtheorien eine sehr große Bandbreite an Vorhersagen machen, aber eben keine definitiven, die man durch Messungen falsifizieren oder verifizieren könnte.

Herbert Dreiner

Neue Fragen, neue Geräte, neue Physik

Die Erforschung der neuen Physik jenseits des SM erfordert große Anlagen und umfangreiche Ressourcen. Deshalb findet auf europäischer und internationaler Ebene eine enge Abstimmung über die Prioritäten künftiger Großexperimente statt. Der nächste wichtige Schritt ist ein Upgrade des LHC am CERN, der High-Luminosity-LHC (HL-LHC), der 2029 in Betrieb gehen soll. Mit dem HL-LHC geht eine wesentliche Verbesserung der Experimente CMS und ATLAS einher. Für die LHC-Experimente LHCb und ALICE wird derzeit über eine Erweiterung Mitte der 2030er-Jahre diskutiert.

Mit dem HL-LHC sollen zehnmal mehr Daten gewonnen werden als mit dem LHC bis 2025. Die Verbesserungen der Experimente dienen zum einen der Anpassung an die erhöhte Zahl von Ereignissen pro Zeit. Zum anderen werden durch verbesserte Auflösung, einen größeren Anteil nicht-verworfener Ereignisse und verbesserte Datenrekonstruktion, bei denen u. a. verstärkt Methoden der Künstlichen Intelligenz zum Einsatz kommen, neue Möglichkeiten zur Suche nach bisher unentdeckten Teilchen oder Phänomenen geschaffen. So sollen unter anderem die Eigenschaften des Higgs-Bosons genauer vermessen und neue Teilchen mit bislang nicht zugänglichen Signaturen oder bislang zu geringen Raten gesucht werden.

Zukünftige neue Teilchenbeschleuniger sind ebenfalls in Planung. Eine Higgs-Factory ist ein Elektron-Positron-Collider mit einer sehr hohen Zahl an Begegnungen pro Fläche und Zeit (hohe Luminosität) bei sehr hohen Energien. Higgs-Factories erlauben höchstpräzise Messungen der schwersten bekannten Elementarteilchen (Higgs-Boson, Top-Quark, W- und, Z-Boson). Neben der direkten Suche nach neuen Teilchen steht an einer Higgs-Factory auch die indirekte Suche nach neuer Physik im Mittelpunkt.

Am CERN wird derzeit solch ein neuer zirkularer Elektron-Positron-Collider, der Future Circular Collider (FCC-ee), mit einem Umfang von etwa 90 Kilometern in einer Machbarkeitsstudie untersucht. Er könnte Mitte der 2040er-Jahre in Betrieb gehen. Nach Ausschöpfung des Physikprogramms mit Leptonen könnte in ferner Zukunft ein Hadronen-Collider mit bis zu 100 TeV im gleichen Tunnel realisiert werden, wie das schon beim LHC im ehemaligen LEP-Tunnel erfolgreich durchgeführt wurde. Ähnliche Pläne für Zirkularcollider existieren in China.

Alternativ wird das Konzept für einen Elek­tron-Posi­tron-Linear­collider untersucht. Dabei werden die Teilchen nicht im Kreis, sondern auf gerader Strecke beschleunigt. Am weitesten ausgearbeitet sind der supraleitende International Linear Collider (ILC) und der normalleitende Compact Linear Collider (CLIC). Bei etwas geringerer Luminosität als der ­FCC-ee, liefern Linearcollider die Möglichkeit, die Spins der beteiligten Elementarteilchen gezielt auszurichten, was weitreichende zusätzliche Möglichkeiten für Präzisionsexperimente bietet. Darüber hinaus können Linearcollider später für höhere Energien umgerüstet werden: durch Verlängerung des Beschleunigers oder Einbau von verbesserten oder ganz neuartigen Beschleunigungselementen.

Klaus Desch, Herbert Dreiner und Jörg Pretz