Neutrinos sind Elementarteilchen, die bei der schwachen Wechselwirkung entstehen – beispielsweise, wenn ein Neutron in ein Proton und ein Elektron umgewandelt wird. Wie das Elektron mit seinen Verwandten Myon und Tauon oder die Quarks kommen auch Neutrinos in drei Familien oder „Flavours“ (engl. Geschmacksrichtung, Sorte) vor: als Elektron-, Myon- oder Tau-Neutrino. Die Quantenmechanik der Neutrinos beinhaltet eine überraschende Eigenschaft: Wenn sie eine Masse haben, auch wenn sie nur minimal von exakt Null abweicht, dann wandeln sich Neutrinos von allein von einer Sorte in die andere um – und wieder zurück. Da dies periodisch geschieht, spricht man von der Neutrinooszillation.
Die Vermutung, dass es solche Neutrinooszillationen tatsächlich geben könnte, äußerte der italienische Physiker Bruno Pontecorvo bereits 1957. Anfang der 1990er-Jahre verdichteten sich die Hinweise durch Messungen von Neutrinos, die von der Sonne kommen: Beobachtungen der Experimente Homestake, Gallex, Sage und Kamiokande zeigten, dass weniger Elektron-Neutrinos aus dem Innern der Sonne auf der Erde ankommen als von Modellen der Sonne vorhergesagt. Ein Teil könnte sich auf dem Weg in Myon- oder Tau-Neutrinos verwandeln.
Den experimentellen Durchbruch brachten zwei Experimente um die Jahrtausendwende: Das Super-Kamiokande-Experiment beobachtete 1998 in Japan die Umwandlung atmosphärischer Myon-Neutrinos, also von Neutrinos, die beim Auftreffen kosmischer Strahlung auf die Erdatmosphäre entstehen. Das Sudbury Neutrino Observatory (SNO) in Kanada berichtete über die Umwandlung von Elektron-Neutrinos aus der Sonne in Myon- oder Tau-Neutrinos. Die Entdeckung, dass Neutrinos sich von einer Familie in eine andere umwandeln können und somit eine Masse ungleich Null haben, war ein Meilenstein in der Elementarteilchenphysik, der Astrophysik und der Kosmologie. Sie ist ein überzeugender experimenteller Beweis für die Unvollständigkeit des Standardmodells (SM), denn dieses beschreibt Neutrinos als masselos. Für diese Entdeckung erhielten Takaaki Kajita und Arthur B. McDonald 2015 den Physik-Nobelpreis.
Der physikalische Mechanismus der Neutrinomischung in der Sonne unterscheidet sich von der Oszillation im Vakuum. Aufgrund der elastischen Streuung von Elektron-Neutrinos an Elektronen in der dichten Sonnenmaterie kommt es zu einer energieabhängigen Verstärkung der Oszillation, die durch den Mikheyev-Smirnov-Wolfenstein-(MSW)-Materieeffekt der solaren Neutrinos vorhergesagt wird. Das Borexino-Experiment im italienischen Gran-Sasso-Untergrundlabor konnte diesen Effekt bestätigen – ein Meilenstein im Verständnis der solaren Neutrinos.
Neutrinooszillationen im Vakuum
Der Quantenzustand von Neutrinos, die eine Masse haben, lässt sich als Überlagerung verschiedener Massenzustände beschreiben, welche sich als Wellen mit unterschiedlichen Frequenzen und Geschwindigkeiten ausbreiten. Je nachdem, nach welcher Entfernung man es misst, erwischt man das Neutrino in einer anderen Phase. Ein Neutrino, welches als Elektron-Flavour produziert wurde, kann nach einer bestimmten Entfernung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als Myon- oder auch Tau-Neutrino und schließlich wieder als Elektron-Neutrino nachgewiesen werden. Die Wahrscheinlichkeiten, einen bestimmten Flavourzustand zu beobachten, ändern sich periodisch; dieser Effekt wird als Neutrinooszillation bezeichnet. Neutrinooszillationen beruhen also auf einem Interferenzeffekt von Materiewellen. Im Bild wurden vereinfacht nur Mischungen zwischen zwei Neutrinos angenommen.
Offene Fragen der Neutrinophysik
Wie schnell die Neutrinos zwischen den verschiedenen Flavour-Sorten oszillieren, ist nur von den Differenzen der Quadrate der Massen abhängig, nicht aber von den absoluten Massen selbst. Während die Vakuumoszillationen keine Aussage über die Reihenfolge der Neutrinomassen von leicht nach schwer erlauben, kann für solare Neutrinos mithilfe des MSW-Effekts immerhin bestimmt werden, dass Elektron-Neutrinos leichter als Myon-Neutrinos sind. Genauere Erkenntnisse soll in den nächsten Jahren in China das JUNO-Experiment mit starker europäischer Beteiligung liefern, das die Oszillationen von Reaktorneutrinos mit hoher Genauigkeit messen wird. Mit dem gleichen Ziel sollen die sich in Vorbereitung befindenden Experimente Hyper-Kamiokande in Japan und DUNE in den USA die Massenordnung mit Myon-Neutrinos aus Beschleunigern untersuchen. Darüber hinaus soll geprüft werden, ob sich die Oszillationswahrscheinlichkeiten von Neutrinos und Anti-Neutrinos unterscheiden.
Die Neutrinomassen sind mindestens fünf Größenordnungen kleiner als die Massen aller anderen Fermionen des SM, was auf einen anderen zugrunde liegenden Mechanismus der Massenerzeugung hinweist. In Betazerfällen führt die Neutrinomasse zu einer Verringerung der maximalen beobachtbaren Elektronenenergie sowie zu einer leichten Verzerrung der anderen beobachtbaren Energien, weil ein Teil der Energie in die Masse des Neutrinos umgewandelt wird. Das weltweit empfindlichste Experiment für solche Messungen ist das KATRIN-Experiment in Karlsruhe, das den Betazerfall von Tritium mit hoher Genauigkeit misst. Um die kleine Signatur einer Neutrinomasse nachzuweisen, sind eine starke Tritiumquelle (100 Milliarden Zerfälle pro Sekunde) und eine Energieauflösung auf der Elektronenvolt-Skala erforderlich. Die KATRIN-Kollaboration konnte für die Neutrinomasse im Betazerfall bisher eine obere Grenze von 0,8 eV mit 90% Gewissheit angeben. In den kommenden Jahren wird KATRIN seine Empfindlichkeit weiter verbessern und die Masse des Neutrinos bis auf 0,3 eV genau bestimmen oder diese Zahl als neue obere Grenze festlegen können. Darüber hinaus wird KATRIN im Rahmen des TRISTAN-Projekts nach bisher unentdeckten hypothetischen sterilen Neutrinos suchen. Diese können nicht mit W-Bosonen (dem geladenen Austauschteilchen der schwachen Wechselwirkung) reagieren und Massen im keV-Bereich haben. Sie sind auch als Kandidaten für die Dunkle Materie (Seite 67) interessant
Die Suche nach dem Majorana-Teilchen
Neutrinos sind die einzigen Fermionen, also Elementarteilchen mit halbzahligem Spin, ohne elektrische Ladung. Daher könnten sie mit ihren Antiteilchen identisch sein. Die Existenz solcher Majorana-Neutrinos könnte einen Schlüssel zur Erklärung der Fragen liefern, warum Materie im heutigen Universum so viel häufiger vorkommt als Antimaterie und warum Neutrinos so viel leichter sind als die anderen Elementarteilchen.
Majorana-Neutrinos würden Kernzerfälle ermöglichen, die bislang im SM der Teilchenphysik nicht enthalten sind. Der sogenannte neutrinolose doppelte Betazerfall wandelt zwei Neutronen in einem Kern gleichzeitig in zwei Protonen um und emittiert dabei zwei Elektronen und keine Anti-Neutrinos. Anschaulich wird beim Zerfall eines Neutrons ein Anti-Neutrino emittiert und sofort als Neutrino von einem zweiten Neutron absorbiert, wodurch es einen weiteren Betazerfall auslösen kann. Das geht nur, wenn das Anti-Neutrino und das Neutrino identisch sind. Könnte man solche Zerfälle beobachten, so wäre die Majorana-Natur der Neutrinos belegt.
Das Experiment mit der derzeit höchsten Empfindlichkeit dafür ist das kürzlich abgeschlossene europäische GERDA-Experiment am Gran-Sasso-Laboratorium in Italien. Es untersucht den Zerfall des Elements Germanium-76. Bisher wurde allerdings kein doppelter Betazerfall ohne Neutrinos entdeckt: Er muss bei diesem Element mit 90% Sicherheit seltener sein als einmal in 1,8⋅1026 Jahren. Basierend auf dem experimentellen Konzept des GERDA-Experiments hat im Gran Sasso im Frühjahr 2023 das Nachfolgeexperiment LEGEND-200 begonnen, das Folgeexperiment LEGEND-1000 befindet sich in Vorbereitung. Ziel der europäisch-amerikanischen Zusammenarbeit ist es, bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts die Empfindlichkeit dieser Messungen um den Faktor 100 zu verbessern und Majorana-Neutrinomassen mit einer Nachweisempfindlichkeit von mindestens 18 meV zu erreichen.
Neben LEGEND-1000 werden weltweit weitere Experimente mit radioaktivem Xenon-136, Molybdän-100 und Tellur-130 mit ähnlicher Empfindlichkeit vorbereitet, um den Doppel-Betazerfall in verschiedenen Isotopen und mit verschiedenen experimentellen Techniken zu beobachten und damit die Majorana-Natur der Neutrinos zweifelsfrei etablieren zu können.

Schon jetzt ist klar, dass das Standardmodell (SM) erweitert werden muss: Entweder müssen sogenannte rechtshändige Neutrinos und/oder sogar neuartige Majorana-Fermionen hinzugefügt werden. Darüber hinaus sind Neutrinos einzigartige Botenteilchen, um astrophysikalische Prozesse zu untersuchen, die sonst nicht zugänglich sind. Nach der erfolgreichen Analyse solarer Neutrinos und der Beobachtung der Supernova 1987a in der Milchstraße mithilfe von Neutrinos hat das IceCube-Experiment am Südpol die ersten extragalaktischen Quellen hochenergetischer Neutrinos entdeckt. Neutrinos haben somit die Tür zu einem besseren Verständnis unseres Universums geöffnet. Ihre Erforschung ist demnach nicht nur für die Elementarteilchenphysik, sondern auch für die Astrophysik und die Kosmologie relevant.
Teilchen mit Geschmack
Im Standardmodell gibt es jeweils sechs verschiedene Sorten von Quarks und Leptonen. Diese Sorten nennt man „Flavour“, was auf Deutsch so viel wie „Aroma“ oder „Geschmacksrichtung“ bedeutet – einen Geschmack im herkömmlichen Sinn haben sie allerdings nicht. Es gibt Quarks in den Flavours „Up“, „Down“, „Charm“, „Strange“, „Top“ und „Bottom“. Die Leptonen-Flavours heißen Elektron, Elektron-Neutrino, Myon, Myon-Neutrino, Tau und Tau-Neutrino. Wie sich von der letzten Aufzählung her erahnen lässt, gehören Flavours immer in Zweiergruppen, sogenannten Generationen, zusammen (Seite 35). Diese insgesamt drei Generationen enthalten demnach jeweils zwei Quarks und zwei Leptonen, die erste Generation zum Beispiel das Up- und das Down-Quark sowie das Elektron und das Elektron-Neutrino.
Aus Sicht der starken und elektromagnetischen Wechselwirkungsind die zweite und dritte Generation schwerere Kopien der ersten Generation. Das bedeutet die Generationen unterscheiden sich in ihrer Masse und verhalten sich ansonsten aber symmetrisch. Die starke und elektromagnetische Wechsewirkung erlauben nicht den Übergang zwischen Teilchen einer Generation noch den Übergang zu Teilchen einer anderen Generation.
Die schwache Wechselwirkung dagegen unterscheidet zwischen den Generationen. Sie erlaubt Übergänge innerhalb einer Generation sowie auch zwischen den Generationen. Diese Übergänge verletzten die Symmetrie zwischen den drei Generation. Diese Symmetriebrechung ist mit dem Higgs-Mechanismus verknüpft, der erklärt, warum die Austauschteilchen der schwachen Wechselwrikung nicht masselos sind (siehe Seite 36). Ebenso führt die Mischung zwischen den Generationen zu unterschiedlichen Raten für Zerfälle von Teilchen und Antiteilchen, d. h. zur Verletzung der Teilchen-Antiteilchen-Symmetrie.

Diese Symmetrieverletzung wurde 1965 zum ersten Mal in Zerfällen neutraler Kaonen – aus Quark und Antiquark zusammengesetzter Teilchen, die ein Strange-Quark oder -Antiquark enthalten – nachgewiesen (Nobelpreis 1980). Die Erklärung des Phänomens erforderte die Mischung von Quarks aus drei Generationen, obwohl damals nur zwei Generationen bekannt waren. Nach der experimentellen Entdeckung dieser dritten Generation gelang 2001 am Stanford Linear Accelerator Center (SLAC) in den USA und am Forschungszentrum KEK in Japan der Nachweis dieser Teilchen-Antiteilchen-Asymmetrie auch bei neutralen Bottom-Hadronen, also aus Quark und Antiquark bestehenden Teilchen, die ein Bottom-Quark oder -Antiquark enthalten. Bottom- und Charm-Hadronen werden aktuell in großen Mengen in Proton-Proton-Kollisionen am LHC (ca. 1012 pro Jahr) und in Elektron-Positron-Kollisionen am KEK produziert und untersucht. Das erlaubt, die Quarkmischungen über das Studium vieler unterschiedlicher Zerfälle sehr präzise zu bestimmen. Zudem kann das SM diese Prozesse sehr genau berechnen. Durch den Vergleich der Messungen mit Theorievorhersagen wird das SM getestet und nach potenziellen Abweichungen gesucht.
Stephanie Hansmann-Menzemer