WISSEN
Die Teile und das Ganze

Aus Vielem entsteht Neues

Die Weisheit, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist, stammt ursprünglich von dem griechischen Philosophen Aristoteles. Das „mehr“ entsteht aus der Wechselwirkung zwischen den Teilen untereinander und mit der Umgebung eines Systems. Dieses „mehr“ manifestiert sich in vielen uns im Alltag umgebenden Systemen der unbelebten und belebten Natur.

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In einem berühmten Essay aus dem Jahr 1972 mit dem Titel „More is different“ – zu Deutsch: „Mehr ist anders“ – legte der amerikanische theoretische Festkörperphysiker Philip W. Anderson dar, dass es zwar durchaus die Kenntnis der Einzelbausteine brauche, um bestimmte Phänomene zu verstehen – diese Kenntnis aber nicht ausreiche, um alle Phänomene zu erklären. So besteht Materie aus einer riesigen Zahl identischer Atome und Moleküle, die wiederum aus Elektronen, Protonen und Neutronen aufgebaut sind. Durch die Wechselwirkung zwischen Atomen und Molekülen treten in der Materie allerdings ganz neue Phänomene und Strukturen auf, die sich in keiner Weise durch die Eigenschaften isolierter Atome oder Moleküle oder durch deren subatomare Bausteine verstehen lassen.

So erklärt der Aufbau einzelner Kupferatome nicht die allseits bekannte Stromleitung durch Kupferkabel. Durch Wechselwirkungen nach den Gesetzen der Quantenphysik ordnen sich Metallatome zu einem Kristallgitter, und einige Elektronen pro Atom werden Teil des sogenannten Gases gemeinsamer Leitungselektronen. Diese bewegen sich bei angelegter Spannung entgegen dem Ohmschen Widerstand durch das Kristallgitter eines Metalls. Mit den Eigenschaften einzelner Atome ist dieses im Alltag sehr wichtige Phänomen der Stromleitung nicht erklärbar. Solch ein Entstehen von Neuem aus dem Zusammenwirken von Komponenten nennt man Emergenz.

Emergenz

Der schillernde Begriff Emergenz (von lateinisch emergere „Auftauchen“, „Herauskommen“, „Emporsteigen“) beschreibt die Möglichkeit der Herausbildung von neuen Eigenschaften und Strukturen in einem aus Einzelteilen bestehenden System, die sich erst durch Wechselwirkung der Teile erklären lassen. Emergente Phänomene in Vielteilchensystemen sind im Alltag zahlreich: Stromleitung, Supraleitung, Halbleiter, Magnetismus, kollektive Bewegung von Vogel- und Fischschwärmen oder von Schaf- und Gnuherden, Selbstorganisation in der Biologie von der Zelle bis zum Organismus.

Diese Beispiele für Emergenz können zwei unterschiedlichen Klassen zugeordnet werden. In stromleitenden Metallen und Magneten ist die Wechselwirkung zwischen den Atomen zeitunabhängig und das ist entscheidend für deren zuverlässige technische Verwendbarkeit. Vögel in Schwärmen reagieren auf das Flugverhalten der Nachbarn und die Reaktion und Wechselwirkung zwischen Molekülen in Zellen hängt von deren lokalen Konzentration ab. Durch diese Rückkopplung wird die Wechselwirkung zwischen den Einzelteilen zeitabhängig und das ist kennzeichnend für Emergenz in komplexen Systemen.

Supraleitung als emergentes Phänomen

Ist schon die normale Stromleitung ein emergentes Phänomen, so setzt die Supraleitung noch ein weiteres obendrauf: Der niederländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes beobachtete 1911 erstmals eine widerstandslose Stromleitung durch Quecksilber und nannte das Phänomen Supraleitung. Sie geht in verschiedenen Metallen (z. B. Niob) unterhalb einer vom jeweiligen Material abhängigen, sehr tiefen Temperatur Tc durch einen Phasenübergang aus der (emergenten) normalleitenden Phase eines Metalls mit Ohmschen Widerstand hervor. Es ist nur eines von vielen Beispielen in der Natur, in denen emergente Phänomene durch Phasenübergänge (bzw. Bifurkationen) einsetzen.

Durch den sogenannten Meißner-Ochsenfeld-Effekt werden Magnetfelder aus Supraleitern verdrängt, weshalb diese in einem Magnetfeld schweben können, sofern die Magnetfeldstärke unter einem bestimmten kritischen Wert liegt.

Links: Der Meissner-Ochsenfeld-Effekt lässt einen Supraleiter über einem Magneten schweben, Mitte: Magnetfeldlinien durch Normalleiter (oben) und deren Verdrängung im Typ-I-Supraleiter (unten), rechts: Starke Magnetfelder durchdringen einenTyp-II-Supraleiter in der Form der sogenannten Abrikosov-Gitter.

1950 schlugen Witali Ginzburg und Lew Landau die nach ihnen benannte universale Ginzburg-Landau-(GL)-Gleichung für den Phasenübergang zur Supraleitung vor. Die GL-Theorie beschreibt zentrale experimentelle Beobachtungen und erlaubt wichtige Vorhersagen. Sie stellt bei einem Phasenübergang den fundamentalen Zusammenhang zwischen einer neuen Ordnung in einem System, hier die Supraleitung, und Kontrollparametern her, hier die Einstellgrößen Temperatur und Magnetfeld.

Die GL-Theorie beschreibt auch die technisch sehr wichtigen Typ-II-Supraleiter, die unter anderem in der Magnetresonanztomografie (MRT) in der Medizin zum Einsatz kommen. In Typ-II-Supraleiter dringen Magnetfelder in Form von schmalen Schläuchen, sogenannten Flusslinien, ein. Die Flusslinien bilden ein zweidimensionales, nach dem russischen Theoretiker Alexei Abrikosov benanntes, Gitter. Durch die Ausbildung der Flussliniengitter bleibt diese räumlich modulierte Supraleitung bis zu weit größeren Magnetfeldbereichen stabil, was insbesondere bei leistungsstarken Magnetspulen von großer technischer Bedeutung ist.

Eine MRT-Aufnahme des menschlichen Schädels. Die räumliche Auflösung nimmt mit der Stärke des Magnetfelds zu. Daher sind auch für diese Anwendung die gegenüber großen Magnetfeldern robusten Typ-II-Supraleiter so enorm wichtig.

Auf der mikroskopischen Ebene beruht die Supraleitung auf der Wechselwirkung zwischen den Leitungselektronen und den kollektiven Schwingungen der Metallatome um ihre Gitterplätze im Kristall, wie die amerikanischen Physiker John Bardeen, Leon Neil Cooper und John Robert Schrieffer mit der nach ihnen benannten BCS-Theorie für Supraleitung entdeckt haben. Durch diese Wechselwirkung zeigt sich die Emergenz darin, dass zwei Leitungselektronen sogenannte Cooper-Paare bilden, die in der Theorie als ein Teilchen (Quasi­teilchen) erfasst werden. Die Gesamtheit der Cooper-Paare wird durch eine sich über den gesamten Festkörper erstreckende Welle beschrieben, die den Gesetzmäßigkeiten der GL-Theorie unterliegt. Durch diesen Zusammenhang bekommen die Parameter in der phänomenologischen GL-Theorie eine mik­ro­sko­pi­sche Bedeutung.

Das Verstehen des emergenten Phänomens Supraleitung beruht also auf dem Wechselspiel zwischen seiner raum-zeitlichen Beschreibung durch die GL-Theorie und seiner mikroskopischen Erklärung durch die BCS-Theorie. Dies zeigt, wie in der (Vielteilchen-)Physik der kondensierten Materie emergente fundamentale Eigenschaften durch scharfsinnige Identifizierung der dafür wesentlichen Mechanismen und deren Berücksichtigung in mathematischen Modellen erklärt werden.

Hier Details, dort das große Ganze

Elektrische Stromleitung und Supraleitung sind natürlich nicht die einzigen emergenten Phänomene in der kondensierten Materie. Ein weiteres Beispiel ist das neuartige Material Graphen, für dessen Herstellung 2010 der Nobelpreis verliehen wurde (siehe Seite 84). Graphen ist ultradünn: Es besteht aus einer einzigen Schicht von Kohlenstoffatomen und zeichnet sich durch eine Reihe neuer emergenter Materialeigenschaften aus, zu denen ein extrem niedriger elektrischer Widerstand, hohe Wärmeleitfähigkeit und enorme Stabilität gehören. Die mikroskopische Erklärung sieht folgendermaßen aus: Die Kohlenstoffatome bilden ein sechseckiges Gitter in Form eines Bienenwabenmusters. In dieser Struktur führt das Wechselspiel zwischen Atomgitter und Elektronen zu frappierenden emergenten Eigenschaften: So verhalten sich Elektronen in Graphen, als ob sie keine Masse hätten, d. h. wie relativistische Teilchen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Eine immer detailliertere Kenntnis des subatomaren Aufbaus der Materie liefert aber keinen Beitrag zur Erklärung emergenter Phänomene in Vielteilchensystemen wie der Supraleitung.

Eine immer detailliertere Kenntnis des subatomaren Aufbaus der Materie liefert aber keinen Beitrag zur Erklärung emergenter Phänomene in Vielteilchensystemen wie der Supraleitung. Entscheidend ist die Identifikation der wesentlichen Wechselwirkungen zwischen den Teilen, sei es zwischen den Atomen in einem Festkörpergitter, den viel größeren Molekülen/Proteinen in einer Zelle oder fliegenden Vögeln in Schwärmen. Eine Berücksichtigung aller Einzelteileigenschaften bis in den subatomaren Bereich verstellt schnell den Blick auf das Wesentliche und würde zudem einen unvorstellbaren hohen Rechenaufwand ohne zusätzlichen Erkenntnisgewinn bedeuten.

50 Jahre nach Andersons wegweisendem Artikel gegen eine radikal reduktionistische Sichtweise auf Naturphänomene ist das Konzept der Emergenz so aktuell wie nie zuvor. Die in der Physik entwickelten Herangehensweisen zur Berücksichtigung wesentlicher Wechselwirkungen zwischen Teilen strahlen mittlerweile in eine Vielzahl von Disziplinen von der Neurobiologie bis zur Verkehrsplanung aus (mehr dazu im Abschnitt „Komplexe Welt – vernetzte Welt“ ab Seite 231).

Markus Bär, Klaus Richter und Walter Zimmermann