Idealerweise werden Theorien – innerhalb eines allgemeingültigen methodischen Rahmens – durch eine endliche Anzahl von Schlüsselexperimenten festgelegt. So kann man z. B. das Newtonsche Gravitationsgesetz (Seite 59) unter der Annahme, dass Raum und Zeit Kontinua sind, durch das Ausmessen von Auslenkungen von Massen an Pendeln oder Federn durch andere Massen in Abhängigkeit von deren Abstand und Größe bestimmen. Man wird dann auch notwendigerweise auf die Gravitationskonstante geführt. Bei höherer Messgenauigkeit findet man Abweichungen oder neue Effekte, wie die gravitative Rotverschiebung, was zu einer neuen, die alten Effekte aber einschließenden, Theorie führt. So gelangt man von der Newtonschen zur Einsteinschen Gravitationstheorie. Dabei bleibt die Newtonsche Theorie immer noch im Rahmen gewisser Näherungen ein gültiger Teil der Einsteinschen Theorie. Ähnlich verhält es sich bei der Weiterentwicklung von klassischer Mechanik zur Quantenmechanik. Im Rahmen der Quantenmechanik ist die klassische Mechanik in gewissen Bereichen (etwa beim „klassischen Grenzfall“) immer noch effektiv gültig.
Findet man in einem Experiment eine Abweichung von den theoretischen Gesetzmäßigkeiten, sucht man zuerst nach einem experimentellen Fehler oder denkt an bisher nicht berücksichtige Einflüsse. Wenn sich trotz langen Suchens keine konventionelle Erklärung finden lässt, versucht man mit vorläufigen Hypothesen eine Gesetzmäßigkeit zu formulieren, deren Auswirkungen man dann auch in anderen, konzeptionell unabhängigen, Experimenten zeigen können sollte. Wenn sich in diesen Experimenten in der Tat neue Effekte nachweisen lassen, wird versucht, daraus eine Theorie zu formulieren, an die jedoch strenge formale Bedingungen gestellt werden, etwa in Bezug auf Symmetrien, Erhaltungssätze, Kausalität oder anderes. Eine neue Theorie ist dann so lange gültig, bis man verifizierte Abweichungen gefunden hat.
Hier geben wir einen Überblick über wichtige, grundlegende Theorien der Physik und weisen dabei auf Widersprüche und offene Fragen des Theoriengebäudes sowie deren Grenzen hin.
Quantentheorie und Relativitätstheorie
Wir können nun zwei Arten von fundamentalen physikalischen Theorien unterscheiden: die Rahmentheorien, die immer und überall und für alle physikalischen Systeme gelten, und die Theorien zu den vier Wechselwirkungen. Mit diesen Theorien sollten im Prinzip alle Phänomene der unbelebten Natur beschreibbar sein. Es gibt bis heute kein einziges experimentelles Resultat, das diesen Theorien offensichtlich widerspricht. Auf trotzdem existierende Probleme werden wir noch eingehen.
Die Theorien zu den vier Wechselwirkungen sind bekannt: es sind dies die allgemeine Relativitätstheorie, die alle gravitativen Phänomene beschreibt, dann die Maxwellsche Theorie für alle elektromagnetischen Phänomene, sowie die Theorie der schwachen und starken Wechselwirkung, die grundlegend für den Aufbau der Materie sind. Bis auf die Gravitation sind alle Wechselwirkungen quantisiert, d. h. als Quantenfeldtheorie formulierbar.
Was sind nun die genannten Rahmentheorien? Da ist zunächst die Quantentheorie. Alle Materie und alle Felder bestehen letztlich aus kleinsten Teilchen und Wellen, die beide den Regeln der Quantenmechanik gehorchen. Auch wir Menschen bestehen letztlich aus Quarks und Elektronen und weiteren Teilchen. Eine weitere Rahmentheorie ist die spezielle Relativitätstheorie. Alle Beschreibungen der Physik müssen sich bei einem Wechsel des Bezugssystems so transformieren, wie diese es vorschreibt.
Da alle Formen von Materie und Energie ein Gravitationsfeld erzeugen und das Gravitationsfeld alle Formen von Materie und Energie beeinflusst, stellt auch die allgemeine Relativitätstheorie eine solche Rahmentheorie dar. Hier fällt schon auf, dass diese Theorie eine Sonderstellung einnimmt: Die allgemeine Relativitätstheorie ist sowohl Rahmentheorie als auch Theorie für eine der vier Wechselwirkungen. Und in der Tat ist die Struktur dieser Theorie ganz anders als die Theorie der anderen drei Wechselwirkungen. Bisher ist es nicht gelungen, diese Gravitationstheorie mit den Theorien für die anderen drei Wechselwirkungen zu vereinheitlichen. Die Probleme, auf die man dabei stößt, müssen im Rahmen einer neuen Theorie, der Theorie der Quantengravitation (Seite 69), gelöst werden. Eine weiterer wichtiger Baustein im Theoriegebäude ist die Beschreibung von makroskopischen Phänomenen, die auf der Wechselwirkung vieler Teilchen beruhen und mithilfe statistischer Ansätze beschrieben werden, auf die wir weiter unten eingehen.
Theorie von Allem?
Mit den beschriebenen Theorien könnte die fundamentale Beschreibung der unbelebten Natur eine eindeutige Form erhalten haben. Leider ist es doch nicht ganz so einfach. Obwohl wir, wie oben erwähnt, bisher keine Beobachtungen und Experimente kennen, die den oben genannten Theorien widersprechen, gibt es einerseits innerhalb einiger dieser Theorien nicht verstandene Punkte, und andererseits gibt es auch zwischen den Rahmentheorien Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie Inkompatibilitäten. Eines der großen Probleme der modernen theoretischen Physik ist, dass Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie nicht miteinander verträglich sind. So sagt die allgemeine Relativitätstheorie voraus, dass es unter sehr allgemeinen Voraussetzungen Schwarze Löcher gibt, die notwendigerweise in ihrem Innern eine Singularität haben. Allerdings verbietet die Quantentheorie das Entstehen von Singularitäten, da kein Quantensystem sich auf einen Punkt zusammenpressen lässt. Damit liegen zur Existenz von Singularitäten zwei widersprüchliche Aussagen vor. Diese beiden Theorien können also nicht gleichzeitig richtig sein. Zwar ist die Singularität zum Glück hinter dem Ereignishorizont verborgen und entzieht sich damit unserer Beobachtung, trotzdem sollten etablierte Rahmentheorien immer und überall kompatibel sein.
Ein weiterer Punkt ist, dass es in der Quantenphysik die Nullpunktsenergie gibt, die auch experimentell sehr gut bestätigt ist (etwa durch Messungen des Casimir-Effekts). Während in der Newtonschen Physik und auch in der Quantenphysik nur Energiedifferenzen eine Rolle spielen (eine konstante Energie ist nicht messbar, nur Energiedifferenzen sind messbar), spielen in der allgemeinen Relativitätstheorie absolute Energiewerte eine Rolle. Auf der rechten Seite der Einstein-Gleichungen taucht der Energie-Impuls-Tensor auf, d. h. insbesondere die Energie erscheint dort. Damit erzeugt die Nullpunktsenergie ein Gravitationsfeld. Wenn man nun die Nullpunktsenergien aller Teilchen im Universum zusammennimmt und das daraus folgende Gravitationsfeld errechnet, würde sich eine kosmologische Entwicklung ergeben, die vollkommen im Widerspruch zu allen Beobachtungen steht. Das theoretische Ergebnis liegt um 120 Größenordnungen neben den Beobachtungen. Darüber hinaus spielt der Begriff der Zeit in der allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantentheorie eine vollkommen unterschiedliche Rolle.
Wenn man eine vereinheitliche „Theorie von Allem“ anstrebt – also eine Theorie, die den Anspruch hat, zumindest für die gesamte unbelebte Natur gültig zu sein –, können Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie nicht unverändert bleiben. Es müssen entweder die Quantentheorie oder die allgemeine Relativitätstheorie angepasst werden – oder gar beide zusammen. Man sucht daher nach einer vereinheitlichten Quantengravitationstheorie, die die bisherige Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie ersetzt.
Vielteilchensysteme und statistische Physik
Die oben beschriebenen Fundamentaltheorien sollten prinzipiell geeignet sein, alle unbelebten Systeme zu beschreiben. Es gibt jedoch praktische Grenzen. In Systemen, die aus vielen Konstituenten aufgebaut sind, von aus sehr vielen Atomen bestehenden Festkörpern bis hin zu großen Gruppen von Lebewesen, treten häufig Phänomene auf, die nicht durch die Eigenschaften der einzelnen Konstituenten erklärbar sind. Diese Erscheinungen werden als emergente Phänomene bezeichnet. 1972 wies der Nobelpreisträger Philip W. Anderson in seinem Aufsatz „More is different“ darauf hin, dass verschiedene naturwissenschaftliche Felder auf makroskopischer Ebene jeweils angepasste eigenständige theoretische Ansätze benötigen.
Dieser Zugang ist eine Alternative zum oben beschriebenen Ansatz fundamentale, allgemein gültige Theorien zur Beschreibung der Natur zu verwenden. Hierbei sollte aus reduktionistischer Sicht eine detaillierte Kenntnis der Bestandteile des Mikrokosmos zu einem einheitlichen, besseren Verständnis aller beobachteten Phänomene führen. Jedoch ist dieser Ansatz für emergente Phänomene meistens nicht praktikabel, weil diese häufig erst in Systemen mit sehr vielen Teilchen auftreten. Im Gegenteil können zu detaillierte, mikroskopische Beschreibungen den Blick aufs Wesentliche verstellen und sind insbesondere aufgrund des in der Regel hohen Rechen- und Simulationsaufwandes oft nicht für Vorhersagen auf makroskopischer Ebene geeignet.
Die statistische Physik stellt hier Methoden bereit und umfasst Teiltheorien wie Thermodynamik und statistische Mechanik. Hierbei geht es häufig darum, wie man für makroskopische Systeme und ihre Dynamik eine effektive Beschreibung gewinnen kann. Dabei werden neue Begrifflichkeiten wie das Konzept der Phasenübergänge und neue Größen wie Temperatur oder Entropie eingeführt. Die Methoden der statistischen Physik können prinzipiell auf alle physikalischen Systeme und auf alle Wechselwirkungen angewendet werden. Zunächst für abgeschlossene Systeme im thermodynamischen Gleichgewicht entwickelt, hat die Physik in den letzten Jahren zunehmend Nichtgleichgewichtsphänomene in offenen makroskopischen Systemen betrachtet und dafür Methoden wie die nichtlineare Dynamik entwickelt. Phänomene fernab vom Gleichgewicht umfassen komplexe dynamische Phänomene, nichtlineare Wellen und Strukturbildung auf sehr verschiedenen Längenskalen und sind in vielen Feldern Gegenstand aktueller Forschung.
Fazit
Im Rahmen der oben beschriebenen Ansätze können die physikalischen Aspekte der unbelebten Welt von der atomaren Skala bis zu kosmologische Phänomenen beschrieben werden. Selbst in der Biologie können immer mehr Phänomene auf physikalische Prozesse zurückgeführt werden (ab Seite 131). Zudem werden die Methoden der statistischen Physik immer häufiger auch auf komplexe und vernetzte Systeme außerhalb der Physik angewandt (ab Seite 231).