WISSEN
Die Teile und das Ganze

Nichtgleichgewicht und Strukturbildung

Unsere Welt ist voll mit faszinierenden Strukturen und Mustern, wie zum Beispiel Wolkenstreifen. Wir verdanken sie meistens dem Umstand, dass sich die Welt im Nichtgleichgewicht befindet. Muster erfüllen oftmals auch lebenswichtige Funktionen und erstrecken sich von Mikrometern bis hin zu Hunderttausenden von Lichtjahren.

Vorabversion

Unsere Erde ist ein offenes System im Nichtgleichgewicht, das permanent große Mengen an Strahlungsenergie von der Sonne empfängt und umgewandelt zum Teil als Wärmestrahlung ins Weltall wieder abgibt. Dieser Energiefluss treibt viele spannende Phänomene auf der Erde an, so auch das Pflanzenwachstum, und ermöglicht dadurch die Vielfalt des Lebens. Da die Sonnenstrahlung nicht gleichmäßig auf die Erdoberfläche trifft, wird sie zum Motor für eine große Zahl faszinierender dynamischer Phänomene wie die Atmosphärenbewegungen (Wind, Niederschläge, Wolken, Hydrologie) und die Meeresströmungen.

Dagegen sind alltägliche Umgebungseinflüsse auf viele wichtige Materialien wie Metalle oder Halbleiter im Vergleich zu den für Veränderungen notwendigen Einwirkungen gering. Solche Gegenstände können daher als abgeschlossene Systeme im thermischen Gleichgewicht betrachtet werden.

Situationen abseits des physikalischen Gleichgewichts treiben auch chemische und technische Prozesse in der Industrie, unterschiedliche Transportphänomene und die Fortbewegung mit Verkehrsmitteln oder Katastrophen wie Erdbeben an. Nichtgleichgewichtszustände lassen sich sogar einfrieren: Durch sehr schnelles Abkühlen können Materialien in solchen Zuständen verharren, was beispielsweise die stärksten bekannten Metalllegierungen und die zähesten Kunststoffe hervorbringt.

Strukturbildung in Biologie und Chemie

Der englische Mathematiker Alan Turing postulierte bereits 1952, dass ein einfaches System aus zwei Chemikalien, die diffundieren und miteinander reagieren, das nach ihm benannte Turing-Muster hervorbringt. Es gehört zur gleichen Musterklasse wie Konvektionsrollen. Da die beiden Chemikalien hierfür sehr unterschiedliche Diffusionseigenschaften besitzen müssen, hat es 40 Jahre gedauert, sie in einem chemischen Experiment nachzuweisen. Proteine in Zellen bewegen sich (diffundieren) ebenfalls oft sehr unterschiedlich schnell. Turing-Muster spielen daher in der Zellbiologie eine wichtige Rolle. Auch die Hautpigmentmuster beim Kaiserfisch zählen zu den Turing-Mustern.

Strukturbildungsprozesse in lebenden Systemen erfüllen wichtige Funktionen (ab Seite 131). So lässt sich bei länglichen Kolibakterien kurz vor ihrer Zellteilung im Zellinneren eine Schwingung (genauer, eine stehende Welle) der Konzentration von sogenannten Min-Proteinen beobachten. Weil der Knoten der stehenden Welle immer in der Zellmitte liegt, wird dort die Zellteilung ausgelöst. Der Musterbildungsprozess erfüllt also die zentrale Funktion, die Mitte der Zelle zu finden, damit das genetische Material immer zu gleichen Teilen auf die beiden Tochterzellen aufgeteilt wird. Es lassen sich im Labor in einer Lösung die zellinterne Energiequelle Adenosintriphosphat (ATP) und die unterschiedlichen Min-Proteine mit einer künstlichen Lipidmembran, an die sich Proteine binden können, zusammenbringen (Seite 147). Da in diesem Fall mehr als zwei Proteinsorten diffundieren und reagieren, lässt sich die faszinierende Strukturbildung in Form von Wanderwellen oder rotierenden Spiralen beobachten. Erst eingeschränkte Geometrien (kleines langgestrecktes, quasi-eindimensionales Bakterium vs. große ausgedehnte zweidimensionale Grenzschicht in der Petrischale) führen in solchen In-vitro-Experimenten von laufenden zu den für die Zellteilung wichtigen stehenden Wellen.

Raumzeitliche Dynamik von Min-Proteinen im Kolibakterium in vitro.

Nichtgleichgewicht und Musterbildung

Viele Phänomene fernab vom thermischen Gleichgewicht sind Gegenstand aktueller Forschung. Eine bedeutende Klasse davon sind Phasenübergänge weit im Nichtgleichgewicht, bei denen sich eintönige homogene Zustände durch Strukturbildung in Muster mit sehr unterschiedlichen Zeit- und Längenskalen verwandeln. Ein Alltagsbeispiel ist ein langer Applaus: Ein zunächst unstrukturierter Klatschlärm schlägt durch Umgebungswahrnehmung (Rückkopplung) oft in synchrones periodisches Beifallklatschen um. Der unstrukturierte Lärm klingt immer ähnlich, egal, wann man anfängt, zuzuhören. Beim Übergang zum rhythmischen Beifall wird diese Symmetrie gebrochen und durch eine Periodizität mit diskreter Symmetrie ersetzt: Jetzt macht es einen Unterschied, zu welchem Zeitpunkt man mit dem Zuhören beginnt.

Bei den Konvektionsstrukturen wird nicht eine zeitliche, sondern eine räumlich homogene Symmetrie gebrochen. Derartige und in der Natur weit verbreitete Nichtgleichgewichtsübergänge zu periodischen Strukturen sind weitere Beispiele für Bifurkationen (Verzweigungen) zwischen Zuständen in der nichtlinearen Physik, die häufig mit Instabilitäten homogener Zustände zusammenhängen (siehe auch „Kippdynamiken im Erdsystem“ auf Seite 123).

Thermische Konvektion

Die thermische Konvektion spielt eine zentrale Rolle bei der Dynamik in der Atmosphäre (Titelbild), im Erdinneren und bei vielen technischen Prozessen. Das Konvektionssystem spielt auch beim Verständnis systemübergreifender Phänomene der Strukturbildung eine Schlüsselrolle: Hier gelingt die Modellierung von periodischen Konvektionsmustern gut, so dass durch die quantitative Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment an diesem System auch universelle Gesetzmäßigkeiten der Strukturbildung exemplarisch nachgewiesen und verstanden wurden.

Konvektionszelle

Die Abbildung rechts zeigt einen Ausschnitt einer ebenen, horizontalen Konvektionszelle. Die obere Behälterwand hat eine niedrigere Temperatur als die untere. Dadurch entsteht eine instabile Schichtung im Gravitationsfeld: kältere und schwerere Flüssigkeit oben sowie wärmere und leichtere unten. Der resultierende Wärmestrom von unten nach oben bedeutet Nichtgleichgewicht in der Flüssigkeitsschicht. Setzt sich die leichtere untere Flüssigkeit nach oben und gleichzeitig die schwerere obere Flüssigkeit nach unten in Bewegung, so entsteht u. a. viskose Reibung. Daher wird diese Schichtung erst ab einer kritischen Temperaturdifferenz instabil, die von den Materialeigenschaften und der Schichtdicke abhängt. Mit Überschreiten der kritischen Temperaturdifferenz setzt die Konvektion ein. Durch die Konvektion wird effizienter Wärme transportiert als ohne. Mit Durchleuchtung der Konvektionszelle lassen sich die Konvektionsmuster sichtbar machen. Diese verändern sich, wenn man die seitlichen Begrenzungen einer Konvektionszelle variiert. Je nach Berandung orientieren sich Streifenmuster ganz allgemein entweder senkrecht zur Berandung wie die Konvektionsstreifen oder parallel.

Abweichungen von der Parallelität der oberen und unteren Wand führen zu Einschränkungen der möglichen Musterwellenlängen, auch das ist eine an diesem System beobachtbare universelle Eigenschaft periodischer Muster. So wird exemplarisch auch die räumlich benachbarte Koexistenz von Streifen- oder Bienenwabenmustern beobachtet (unten mitte) oder es kommt zu neuartigen raumzeitlichen Mustern, wie dem Spiral-Defekt-Chaos (unten rechts).

Exemplarische Muster in kreisförmigen Konvektionszellen

Die spannenden Antriebsmechanismen von Instabilitäten sind so unterschiedlich wie die Systeme selbst; umso faszinierender ist es, dass Muster systemübergreifende Eigenschaften besitzen. So sind räumlich periodische Muster nicht nur bei einer Wellenlänge, sondern für eine Bandbreite unterschiedlicher Wellenlängen intrinsisch stabil. Während eine kleine Kugel nach den Regeln der Mechanik immer zum niedrigsten Punkt einer Mulde mit der niedrigsten Lageenergie rollt, werden Wellenlängen von Mustern im Nichtgleichgewicht durch Anfangsbedingungen oberhalb einer Bifurkation aus dem stabilen Band gewählt. Auch Umgebungsbedingungen bzw. Randbedingungen beeinflussen die Bandbreite von stabilen Musterwellenlängen. Mit den universellen Eigenschaften der Musterbildung in Physik, Chemie, Technik bis hin zu den Lebens-und Gesellschaftswissenschaften beschäftigt sich das Gebiet der Strukturbildung. Weitere Beispiele werden im Abschnitt „Komplexe Welt – vernetzte Welt“ ab Seite 231 beschrieben.

Markus Bär und Walter Zimmermann