WISSEN
Die Teile und das Ganze

Die Wahr­schein­lich­keits­welt der Quan­ten

Die Bausteine der Materie, also die Elementarteilchen, ihre Austauschteilchen und damit auch alle Atome und Moleküle, sind den Regeln der Quantenmechanik unterworfen. Diese Regeln weichen von denen der Alltagsmechanik erheblich ab und ermöglichen neue Technologien, von denen wir früher nicht zu träumen wagten.

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„Eine Revolution startet dort, wo das Althergebrachte ausgedient hat.“ Als Physiker:innen Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend Phänomene beobachteten, die sie mit klassischen Mitteln nicht erklären konnten, kündigte sich daher eine große Veränderung an. Max Planck, Niels Bohr, Werner Heisenberg, Louis de Broglie, Erwin Schrödinger, Max Born, Pascual Jordan, Grete Hermann, Lucy Mensing und andere entwickelten die Quantenmechanik in der heute noch gültigen Form – eine Theorie, die unser Verständnis der Welt seither auf den Kopf gestellt und viele neuartige Technologien ermöglicht hat und weitere ermöglichen wird.

Die grundlegende Eigenschaft dieser Theorie lässt sich an einem viel zitierten Experiment beispielhaft zeigen: Schickt man Elektronen, Atome, Moleküle oder andere Quantenteilchen durch einen Doppelspalt, entsteht dahinter ein Überlagerungs- oder Interferenzmuster. Dieses eigentlich für Wellen typische Muster bildet sich heraus unabhängig davon, ob viele Teilchen auf einmal oder alle nacheinander den Spalt durchqueren. Das bedeutet, dass alle Atome miteinander eine klassisch nicht erklärbare Korrelation zeigen, was man auch salopp damit beschreibt, dass jedes Teilchen nur „mit sich selbst“ interferiert.

Wellenfunktion und Unschärfe

Mathematisch lässt sich der Zustand eines solchen Quantensystems durch eine Wellenfunktion beschreiben. Analog zur klassischen Mechanik stellt man sich dann die Frage, wie sich das System mit der Zeit verhält. In der Quantenmechanik wird dies durch die berühmte Schrödingergleichung beschrieben:

Mit dieser Gleichung kann man z. B. die erlaubten Energiezustände von Elektronen in Atomen und Molekülen und auch in Festkörpern berechnen. Denn in der Quantenphysik können die Elektronen hier nicht mehr jede beliebige Energie annehmen, sondern nur noch ganz bestimmte Energiestufen. Deren Kenntnis liefert die Grundlage für die Spektroskopie, für Laser und für hochgenaue Uhren (Quantenmetrologie) wie auch für die gesamte Halbleiterphysik, auf der unsere heutigen Computer basieren. Wie bei einer echten Revolution wirkte sich das veränderte Weltbild also auf die Praxis aus. Das Aufkommen dieser ersten quantenbasierten Technologien wird daher auch als erste Quantenrevolution bezeichnet.

Bose-Einstein-Kondensate

Wir wissen, dass wir den absoluten Temperaturnullpunkt nie ganz erreichen können – auch das ist eine Folge des Unschärfeprinzips. Mit Quantentechnologien wie Laserfallen und Laserkühlung ist es allerdings möglich, Quantensysteme bis auf unter ein Milliardstel Grad abzukühlen. Dort zeigt sich ein besonderes Quantenphänomen, die Bose-Einstein-Kondensation: Alle (bosonischen) Quantenteilchen gehen in denselben Grundzustand und bilden dort ein großes kohärentes System. Dieses kann z. B. zur Erzeugung von kohärenten Atomstrahlen (Atomlaser) eingesetzt werden, die extrem genaue Messverfahren ermöglichen.

Seltsame Wellenfunktion

Die Änderung des Weltbilds lässt sich am besten anhand des Messvorgangs illustrieren. War man es in der klassischen Physik gewohnt, jede einzelne Messung vorhersagen und überprüfen zu können, so musste man sich nun mit einer Wellenfunktion auseinandersetzen, deren Bedeutung für die einzelne Messung die einer Wahrscheinlichkeit ist. Übersichtlich ist die Situation bei der Überlagerung der beiden Wellenzüge eines Teilchens, wenn es am Doppelspalt mit sich selbst interferiert. Die Wellenfunktion besteht hier aus der Überlagerung zweier Einzelwellen, die das bekannte Interferenzmuster bilden. Die Messung eines einzelnen Teilchens jedoch findet an genau einer Position auf dem Detektor statt und kann kein Wellenmuster zeigen. Es ist somit auch unvorhersagbar, wo genau das nächste Teilchen auftrifft. Viele dieser Teilchen bilden dann jedoch schließlich genau die Wahrscheinlichkeit ab, die sich aus der Wellenfunktion ergibt.

Eine Einzelmessung liefert auch keine Information über den ursprünglichen Quantenzustand des Messobjekts – durch die Beobachtung geht dieser irreversibel verloren. Die scheinbare Zufälligkeit des einzelnen Messausgangs bei Quantensystemen bereitete unter anderem einem der Wegbereiter der Quantenmechanik, Albert Einstein, größtes Unbehagen. Viele weitere Physiker:innen vertraten lieber die Ansicht, dass das Messergebnis irgendwo im Quantenzustand doch bereits festgelegt sei, und wir nur nicht in der Lage seien, diese Eigenschaft zu erkennen. Solche Theorien mit „verborgenen Parametern“ haben sich experimentell aber als grundsätzlich falsch erwiesen. Der quantenmechanische Einzelmessprozess ist also mit einer intrinsischen Unbestimmtheit verbunden, die auch nicht anderweitig überwunden werden kann. Diese Unbestimmtheit ist zwar der klassischen Welt vollkommen fremd, sie ist aber nicht schlimm (etwa für technische Anwendungen), wir können damit umgehen und sie auch zu unserem Vorteil nutzen.

Woher wissen es die Teilchen? In einem Doppelspaltexperiment mit Quantenteilchen (z. B. Elektronen) lässt sich zeigen, dass Wellen- und Teilchennatur dieser Objekte gleichzeitig auftreten. Die Teilchenquelle links lässt immer nur einzelne Teilchen auf den Doppelspalt treffen. Jedes einzelne Teilchen nimmt nach dem Durchgang eine scheinbar zufällige Position auf dem Empfangsschirm rechts ein. Lässt man jedoch immer mehr Teilchen durch die Apparatur fliegen, dann bilden sich auf dem Empfangsschirm nicht etwa zwei Streifen, also einer je Spalt. Stattdessen entsteht ein Interferenzmuster, wie man es kennt, wenn zwei kreisförmige Wasserwellen an der Stelle der Spalte erzeugt würden. Die Menge der Teilchen verhält sich wie eine Welle, auch wenn einzelne Teilchen zeitlich völlig unabhängig voneinander die Apparatur durchqueren!

Unschärfe und Squeezing

Wenn man den Ort eines Quantenteilchens mit einer bestimmten Genauigkeit messen will, impliziert das eine bestimmte Unschärfe in seinem Bewegungszustand. Mit anderen Worten: Je genauer man den Ort eingrenzt, desto weniger kann man über den Impuls sagen. Diese Heisenbergsche Unschärferelation hat essentielle Auswirkungen auf die prinzipielle Genauigkeit von Messungen.

Die Heisenbergsche Unschärferelation verlangt zwar, dass das Produkt der Messungenauigkeiten zweier zusammenhängender Größen einen bestimmten Wert nicht unterschreitet. Sie schreibt jedoch nicht vor, dass beide Messungenauigkeiten gleich groß sind. Konkret bedeutet dies, dass wir sehr wohl eine der Messungen sehr genau durchführen können, wenn uns die andere Messung „egal“ ist. Ein typisches Beispiel ist die genaue Messung der Phase von Licht zu Ungunsten der Messgenauigkeit seiner Amplitude. Man bezeichnet dieses Licht dann als „gequetscht“ (engl.: squeezed). Das vermutlich prominenteste Beispiel für solche Präzisionsmessungen mit gequetschtem Licht ist die interferometrische Gravitationswellendetektion. Denn diese sind in einem weiten Bereich ihres Messfensters durch das Quantenrauschen der verwendeten Laser begrenzt, obwohl diese Laser bereits technisch so rauscharm wie möglich sind. Das verbleibende Quantenrauschen der Laser tritt in einem Interferometer in zwei Formen in Erscheinung: als Photonen-Schrotrauschen (die „Krisseligkeit“ bei der Messung der Leistung der Laser) und als Quanten-Strahlungsdruckrauschen (das „Wackeln“ der Interferometerspiegel, wenn die variierende Laserleistung auf sie trifft). Beide Effekte haben ihren Ursprung in der Quantennatur des Lichtes, machen sich aber völlig unterschiedlich bemerkbar (als Detektionsrauschen und als Rückwirkungsrauschen, da die wackelnden Spiegel das Licht „zurückschubsen“ und so die Phasenlage seiner Wellenzüge ändern). Zusammen bilden diese beiden Manifestationen des Laser-Quantenrauschens das Standard-Quantenlimit der Interferometrie. Es müssen nicht-klassische Methoden verwendet werden, um diese untere Grenze der Messgenauigkeit zu unterbieten, wie z. B. das frequenzabhängige Squeezing.

Deutlich komplexer als ein Doppelspaltexperiment ist die technische Realisierung des Quetschlichts, hier am Beispiel des GEO600-Gravitationswellendetektors.

Verschränkung und offene Fragen

Ein Meilenstein in der weiteren Entwicklung der Quantenmechanik war die Vorhersage der Verschränkung und dann auch der experimentelle Nachweis dieses Quantenphänomens. In seiner einfachsten Realisierung existiert Verschränkung in einem System aus zwei Quantenteilchen, bei denen jedes Teilchen zwei Zustände einnehmen kann, wie z. B. Spin aufwärts und Spin abwärts. Der verschränkte Zustand ist dann die Verknüpfung dieser beiden Zustände: Misst man bei verschränkten Teilchen den Spin des einen Teilchens, so ist festgelegt, wie eine Messung des Spins des zweiten Teilchen aussehen muss. Die Ergebnisse sind demnach korreliert. Nur, woher „weiß“ das eine Teilchen, dass an dem anderen eine Messung durchgeführt wurde, und wie diese ausgegangen ist, auch wenn die beiden Teilchen sehr weit voneinander entfernt sind? Auch wenn man dies noch nicht versteht, kann man Verschränkung experimentell nachweisen und sogar technisch ausnutzen. Für große Teilchensysteme ist die Anzahl der verschränkten Zustände dabei viel größer als die der nicht verschränkten Zustände. Verschränkung ist somit der natürliche Zustand von Vielteilchen-Quantensystemen.

Trotz all der theoretischen Einsichten und experimentellen Erfolge gibt es weiter offene Fragestellungen: So ist beispielsweise unklar, wie sich die Natur der Wellenfunktion anschaulich verstehen und interpretieren lässt, oder was genau während des Messprozesse mit ihr geschieht. Unklar ist auch, wie sich die klassische Mechanik als Grenzfall der Quantenmechanik herleiten lässt. Auch die Verbindung der Quantenmechanik mit der allgemeinen Relativitätstheorie ist noch nicht abschließend gelungen.

Die Quantentheorie beschreibt bisher alle Experimente in ihrem Anwendungsbereich korrekt. Es gibt kein einziges Experiment, welches im Widerspruch zur Quantentheorie steht. Allerdings gibt es keine rein auf Experimenten aufgebaute Axiomatik der Quantentheorie. Daher ist man auf einen gewissen Grad der Interpretation angewiesen, was zur Folge hat, dass es einige konkurrierende Interpretationen der Quantenmechanik gibt, die teilweise auch, wenn sie mit leicht anderen Axiomen starten, unterschiedliche experimentelle Konsequenzen vorhersagen. Allerdings wurde bisher keine Abweichung von der „Standard-Quantenmechnik“ gefunden.

Quantentechnologie

Die Forschung auf dem Gebiet der Quantenmechanik ist sehr spannend und herausfordernd: Wir untersuchen Gesetzmäßigkeiten, die einerseits sehr kontraintuitiv sind. Andererseits ermöglicht die Quantenmechanik gerade deshalb neue, unterwartete und damit oft revolutionäre Technologien (ab Seite 196). Nach der ersten Quantenrevolution, in der Quanteneigenschaften vieler Quantenteilchen ausgenutzt wurden, standen bald Einzelquantensysteme im Vordergrund: einzelne Quantenzustände, die zum Beispiel Anwendung im Quantencomputing, in der Quantenkryptografie und Quantenkommunikation bis hin zum Quanteninternet finden. Speziell in der Quantenkryptografie hat es die Physik es geschafft, aus einem prinzipiellen Unwissen (des Ergebnisses einer Einzelmessung) etwas Konstruktives zu gewinnen. Teil dieser auf Einzelquantensystemen basierenden zweiten Quantenrevolution sind aber auch das Design von Quantenmaterialien, die Quantenbildgebung und Quantenmetrologie. Letztere nutzt die Quantenmechanik, um ein allein auf der Definition von bestimmten Naturkonstanten aufgebautes Einheitensystem zu definieren (Seite 209). Auch quantenbasierte Künstliche Intelligenz besitzt ein noch nicht abzusehendes Potenzial.

Obwohl wir also die Regeln kennen, lässt sich mit Sicherheit sagen, dass wir nur einen Bruchteil des Potenzials der Quantenmechanik erforscht haben. Es werden noch viele neue quantenbasierte Prozesse und Materialen gefunden werden, die als Grundlage für vollkommen neue Technologien und Anwendungen dienen können, und die auch unser Verständnis der Materie und ihrer Wechselwirkung weiterbringen. Die Revolution, die diese Theorie angestoßen hat, ist noch lange nicht am Ende.

Matthias Bartelmann, Michèle Heurs, Claus Lämmerzahl und Reinhard Werner