WIRKUNG
Komplexe Welt

Von Schwärmen und Schleimpilzen

Biologische Systeme stellen eine der größten Klassen komplexer Systeme dar. Die Physik komplexer Systeme spielt deshalb hier eine wichtige Rolle, um die Vorgänge innerhalb einzelner Zellen, aber auch kollektives Zusammenwirken bis hin zur Schwarmbildung zu verstehen.

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Wie bilden sich die Punkte auf dem Leopardenfell und die Streifen beim Zebrafisch? Wie formen sich geordnete Gewebestrukturen im Zuge der Embryonalentwicklung? Und wie entsteht das kollektive Verhalten von Ameisen, Fischen oder Vögeln? Die universellen Prinzipien der Physik komplexer Systeme helfen zu verstehen, wie sich geordnete Strukturen und Prozesse in biologischen Systemen herausbilden. Dabei ist die biologische Physik nicht alleine als Anwendungsfeld der Komplexitätsforschung zu sehen, sondern vielmehr als eine treibende Kraft, die viele grundlegende Beiträge zu diesem Feld geliefert hat.

Thermodynamisch gesehen sind lebende Systeme offene Systeme, die Energie und Materie mit ihrer Umgebung austauschen. Sie bestehen aus einer Vielzahl von Komponenten, deren Wechselwirkungen zur kollektiven Ausbildung räumlicher und zeitlicher Strukturen führen. Deren Dynamik wiederum ist durch nichtlineares und stochastisches Verhalten gekennzeichnet. Im Folgenden stellen wir drei übergeordnete Prinzipien vor, die die Dynamik komplexer biologischer Systeme auf ganz unterschiedlichen Skalen organisieren.

Oberes Teilbild; Schema der Ausbreitung von Wellen in einem anregbaren Medium. Unteres Teilbild: Proteinwellen in einer Froscheizelle (links), Spiralwellen des Signalstoffs cAMP bei der Aggregation von Schleimpilzkolonien (rechts).

Anregbares Verhalten

Manche Systeme sind nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen: Kleine Störungen in einer Nervenzelle klingen sofort wieder ab, ebenso wie ein kleiner Funke in einem intakten Wald erlischt. Überschreitet die Störung jedoch eine kritische Schwelle, so setzt ein nichtlinearer Verstärkungsprozess ein. Beispiel Nervenzelle: Wird die elektrische Spannung an der Membran einer Nervenzelle nur geringfügig gestört, so passiert im Ganzen gesehen nichts. Ist die Störung jedoch groß genug, so öffnen sich in der Zellmembran Kanäle. Weitere Natriumionen strömen in die Zelle und verstärken die Störung des Membrangleichgewichts; die Zelle ist erregt. Analog mag vielleicht ein Funken den intakten Wald nicht in Flammen aufgehen lassen; handelt es sich aber um ein Lagerfeuer, das auf umliegende Bäume übergreift, so hat man es bald mit einem sich unkontrolliert ausbreitenden Brand zu tun. Die Feuerfront lässt einen abgebrannten Wald zurück, in dem ein neues Feuer keinen Großbrand mehr verursacht. Hat sich die Anregung also erst einmal im ganzen System ausgebreitet, so befindet sich dieses in einem inaktiven, also vorübergehend blockierten sogenannten Refraktärzustand. Das gilt auch für die Nervenzelle: War sie erst vor Kurzem erregt, kann sie temporär nicht auf einen neuen Reiz reagieren. Das System muss sich erst regenerieren, bevor sich eine neue Anregung ausbreiten kann: Neuer Wald muss nachwachsen, und die Ionenpumpen in der Membran müssen den Ruhezustand wiederherstellen.

Das grundlegende Schema des Anregungszyklus – überkritische Störung, nichtlineare Verstärkung und Abklingen in einen Refraktärzustand – wurde erstmals in den 1950er-Jahren durch Alan Lloyd Hodgkin und Andrew Fielding Huxley formuliert, um Messungen an den Nervenfasern des Tintenfischs zu erklären. Ihre später mit dem Medizinnobelpreis ausgezeichneten Arbeiten wurden verallgemeinert und seitdem in zahlreichen biologischen Systemen identifiziert. Sind lokale Elemente, die einen solchen Anregungszyklus durchlaufen können, räumlich mit weiteren, ebenfalls anregbaren Elementen gekoppelt, können sich Anregungswellen ausbilden, die in zweidimensionalen Systemen eine charakteristische, oft universell auftretende Spiralform annehmen. Diese Wellen lassen sich mathematisch erfassen, indem die anregbare Dynamik durch eine Reaktionskinetik beschrieben wird und die räumliche Kopplung zwischen den anregbaren Elementen durch diffusiven Transport.

Dies hilft nicht nur bei der Erklärung, wie sich elektrische Signale entlang der Zellmembran ausbreiten, sondern beispielsweise auch beim Verstehen der Prozesse, die innerhalb einer Zelle zu deren Fortbewegung führen. Auch auf multizellulärer Ebene lassen sich anregbare Wellen beobachten, beispielsweise bei der Ausbreitung elektrischer Signale im Herzgewebe. Ebenso können ganze Organismen anregbares Verhalten zeigen, wie etwa Fische, deren Fluchtreaktion innerhalb eines Schwarms selbige bei den Nachbarn auslösen kann. Auch bei Menschen zeigt sich dies etwa in einem Stadion: Sie springen auf und regen dadurch ihre Nachbarn ebenfalls zum Aufspringen an, sodass sich eine „La-Ola-Welle“ durch die Menschenmenge ausbreitet.

Kollektive Dynamik und Schwarmbildung

Beispiele für Schwarm­bildung in verschiedenen Organismen. Von oben nach unten: Bakterienkolonie, Fisch­schwarm, Heu­schrecken­schwarm, Vogelschwarm.

Kollektives Verhalten aktiver Agenten spielt auf vielen biologisch relevanten Skalen eine Rolle: Innerhalb von Zellen bilden Biopolymere typische Strukturen. Manche Bakterien schließen sich in Kolonien und Biofilmen zusammen. Auch bei der Wundheilung oder der Bildung von Krebsmetastasen spielt die Fähigkeit von Zellen, aktive koordinierte Bewegungen hervorzubringen und Verbände zu bilden, eine entscheidende Rolle.

Im Alltag begegnet uns die kollektive Bewegung in Form von Schwärmen von Fischen, Heuschrecken und Vögeln. Wie auch auf der Ebene der Zellen und Mikroorganismen sind dabei die Symmetrie und Reichweite der Wechselwirkungen sowie die zugrunde liegenden physikalischen Mechanismen von entscheidender Bedeutung für die resultierende kollektive Dynamik und Strukturbildung. So organisieren sich Bakterien durch ein Wechselspiel von sterischen Wechselwirkungen mit kurzer Reichweite und hydrodynamischen Wechselwirkungen mit großer Reichweite: Die sterischen Wechselwirkungen sind durch die räumliche Form der Bakterien bedingt – sie führen dazu, dass sich die stäbchenförmigen Organismen in bestimmten Strukturen organisieren. Hydrodynamische Wechselwirkungen werden durch die umgebende Flüssigkeit übertragen. Sie können chaotische Wirbelstrukturen verursachen, die gemeinhin als aktive Turbulenz bekannt sind.

Die faszinierenden kollektiven Bewegungsmuster von ­Fischen, wie hochgeordnete polare Schwärme oder tornado­artige Wirbelstrukturen, können mit nur drei effektiven Wechselwirkungen erklärt werden: kurzreichweitige Abstoßung, um Kollisionen zu verhindern, ferromagnetisch-artige Ausrichtung mit Nachbarn auf mittlere Entfernungen und langreichweitige Anziehung. Bei kannibalistischen Heuschrecken sind die Reaktionen auf Artgenossen stattdessen eher durch Flucht- und Folgeverhalten geprägt, welche ebenfalls zu hochgeordneten, dynamischen Clustern und Bändern führen. In der Regel nimmt in all diesen Fällen die Stärke der Wechselwirkung im Schwarm mit abnehmendem Abstand zu (metrische Wechselwirkung) – mit Ausnahme von Vögeln, die sich unabhängig vom Abstand am nächsten Nachbarn orientieren (topologische Wechselwirkung). Topologische Wechselwirkungen stellen die Abstimmung eines Schwarms sicher, während metrische Wechselwirkungen häufig zur Separation einer großen Gruppe in kleinere unabhängige Untergruppen und zu starken lokalen Dichteschwankungen führen. Viele Schwarmbildungen haben in der Regel wichtige biologische Funktionen: Individuen im Schwarm können das Verhalten ihrer Nachbarn beobachten und diese soziale Information nutzen. Räuber können im Schwarm früher entdeckt werden („Viele-Augen-Prinzip“), oder es können Viele vom Wissen Einzelner profitieren, z. B. über Nahrungsquellen. Auch das Risiko einzelner Tiere, vom Räuber fokussiert und herausgefangen zu werden, verringert sich.

Dynamik von Netzwerken

Das Überleben gelingt aber nicht nur in Schwärmen, sondern auch einfache, einzelne Organismen können sich dynamisch an ihre Umwelt anpassen und eigenständige Verhaltensweisen zeigen. Der Einzeller Physarum polycephalum (der „wahre“ Schleimpilz) fasziniert Forschende seit Langem, weil er auch ohne zentrales Nervensystem komplexe Aufgaben löst, wie beispielsweise die Optimierung von Pfaden in einem Labyrinth oder die Verteilung von Nahrung in Transportnetzwerken – und das, obwohl er nur aus einer einzigen gigantischen Zelle besteht, die zu einem röhrenförmigen Netzwerk geformt ist. Durch Flüssigkeitsströme und Transport, zusammen mit mechanisch-chemischer Kopplung zwischen den kontraktionsfähigen Röhren, kann dieses Netzwerk wachsen oder schrumpfen und sich anpassen.

Der netzförmige Körperbau des Schleimpilzes übertrifft die typische Zellgröße um viele Größenordnungen. Er kann bis zu einem Meter anwachsen und Millionen von Zellkernen umfassen. Die Netzwerkarchitektur erinnert an andere Transportnetzwerke in Pflanzen und höheren Lebewesen. Derzeit ist noch offen, inwieweit spezifische Formen der Netzwerkarchitektur mit Netzwerkfunktionen assoziiert werden können. Physarum kann zudem Informationen in verschiedenen Formen speichern. Aktuell wird untersucht, wie lange solche Informationen gespeichert und verarbeitet werden. Die große Hoffnung der Forschung ist, dass entsprechende Erkenntnisse über den einfachen Organismus Physarum sich auf komplexere Transportnetzwerke, wie z. B. das Geflecht von Adern in verschiedenen Organen des Menschen, übertragen lassen. Dies könnte die Vorbeugung und Behandlung von Erkrankungen der Adernetzwerke verbessern.

Links: „Der Blob“: Makroskopische Zelle von Physarum polycephalum auf einem gefällten Baumstamm. Rechts: Zu den Enden hin verzweigt die Struktur in feinen Ästen.

Markus Bär, Carsten Beta, Pawel Romanczuk