WIRKUNG
Komplexe Welt

Alltag in einer vernetzten Welt

Die moderne Welt ist vielschichtig und manchmal unübersichtlich: Aus ihrer hochgradigen Vernetzung entspringen globale und fundamentale Phänomene und Herausforderungen wie der Klimawandel, Personen- und Gütertransport, Pandemien, Ökosysteme oder gesellschaftliche Meinungsbildung. Mithilfe der Physik lassen sich Gesetzmäßigkeiten in diesen komplexen Systemen erkennen.

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In wenigen Stunden können Menschen über verschiedene Wege zu beinahe jedem Punkt der Erde reisen. Das tägliche Leben der meisten allerdings findet in räumlich stark begrenzten Bereichen statt: Schule, Arbeit, Freizeit, Familie, Hobbys usw. haben meist klar umgrenzte und lokale Orte und Auswirkungen. Gleichzeitig erleben wir, dass wir durch die Vernetzung vieler unterschiedlicher Ebenen miteinander wechselwirken und sich unsere zwischenmenschlichen sowie technologischen Bereiche überlappen: Wir erfahren sofort, wenn auf einem anderen Kontinent ein Erdbeben oder ein wichtiges Sportereignis stattfindet. Wenn eine Bahnreise sich verspätet, lässt sich darauf schnell durch Umplanung reagieren. Solche komplexen Systeme, die sich durch lokale und langreichweitige, vielschichtige und verwobene Interaktionen auszeichnen, lassen sich nur mit einem ganzheitlichen Blick verstehen.

Die Physik trägt dazu bei, in diesen komplexen Gebilden Muster und Gesetzmäßigkeiten zu entdecken und Ordnung in scheinbare Unordnung zu bringen. Zur Beschreibung der Realität dienen dabei Netzwerke gekoppelter Einheiten (Knoten, also Personen, Orte, Dinge, Ereignisse, …), die Struktur ihrer Verknüpfungen untereinander (Kanten, also Freundschaften, Bahnverbindungen, Strom-/Internetverbindungen, kausale/chronologische Abläufe, …) und ihre Untersuchung mit mathematisch-statistischen Methoden.

Netzwerke unterschiedlicher Komplexität: Gitter sind symmetrisch und alle Knoten haben die gleiche Anzahl von Nachbarn. Werden einige Verbindungen des Gitters durch langreichweitige Verbindungen ersetzt, erhalten einige Knoten zusätzliche Nachbarn und andere verlieren welche (die Anzahl der Nachbarn kann z. B. einer Gaußverteilung folgen). In einem Zufallsnetzwerk geht die räumliche Struktur verloren und die Knoten sind mit einer vorgegebenen Wahrscheinlichkeit verbunden. Die Anzahl der Nachbarn ergibt eine Poissonverteilung. Komplexe Netzwerke sind durch gleichzeitige Existenz von Bereichen größerer Konnektivität und lokalen Strukturen gekennzeichnet. Es gibt wenige Knoten mit vielen und viele Knoten mit wenigen Nachbarn. Der Begriff der räumlichen Distanz wird dabei aufgehoben. An seine Stelle tritt die Netzwerkdistanz: Die Anzahl der Kanten auf dem Weg zwischen zwei Knoten.

Krankheitsausbreitung in der modernen Welt

Besonders anschaulich treten der Grad, die Komplexität und die Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Vernetzung bei der Dynamik von Infektionskrankheiten zu Tage. Viren oder Bakterien werden häufig durch direkte Kontakte übertragen, und die Ausbreitung in einer Population wird stark durch die Eigenschaften der Kontaktnetzwerke bestimmt. Durch Mobilität werden Erreger von Ort zu Ort getragen und breiten sich global auf Transport- oder Verkehrsnetzwerken aus, wie die Coronapandemie eindrücklich gezeigt hat. Dabei verändern sich die Netzwerkstrukturen ohne Unterlass und mit großen Konsequenzen: Ein gestriges Treffen mit einer erst heute ansteckenden Person ist für uns unschädlich. Häufig beeinflusst außerdem der Zustand der Netzwerkknoten die Wechselwirkung: Wenn wir uns krank fühlen oder um ein konkretes Risiko wissen, ändern wir unser Verhalten (bleiben etwa zu Hause) und vermeiden dadurch weitere Ansteckungen. Die Physik und moderne Netzwerkwissenschaft versuchen in diesem Kontext die Frage zu klären, welche Eigenschaften der zugrunde liegenden Netzwerke welche Aspekte der Ausbreitungsdynamik bestimmen. Gerade im Kontext der Coronapandemie waren Ergebnisse dieser Art besonders wichtig, weil fundamentale Erkenntnisse bei der Entwicklung von Eindämmungsstrategien geholfen haben. So wurde z. B. während der Pandemie unter Expert:innen und in den Medien viel über Superspreader-Ereignisse diskutiert, bei denen eine einzige infizierte Person besonders viele weitere ansteckt. Die Erkenntnis, dass stark heterogene Netzwerke mit einigen wenigen stark vernetzten Knoten und sehr vielen schwach vernetzten Knoten eine ganz andere Ausbreitungsdynamik hervorrufen als Netzwerke, in denen alle Knoten in etwa gleich stark vernetzt sind, verdanken wir im Kern einer physikalischen Betrachtung des Phänomens.

Äußerst interessant wird die Dynamik, wenn die Ausbreitung der Erreger nicht mehr als passive Komponente betrachtet werden kann, sondern der „Wirt“ auf die Ausbreitung reagiert. Wenn, wie in der Pandemie, die Gesellschaft über die Ausbreitung informiert wird, ändert sich auf individueller und gesellschaftlicher Ebene die Risikowahrnehmung und damit das Verhalten, was wiederum die Ausbreitung beeinflusst. So ergibt sich eine Rückkopplung zwischen Ursache und Wirkung. Aus der Perspektive der Physik hat man es nun mit einem nichtlinearen, dynamischen Netzwerkphänomen zu tun. Völlig unabhängig vom konkreten Erreger kann man mit Methoden aus der Physik der kritischen Phänomene dann beispielsweise die Frage beantworten, ob und wann durch das Wechselspiel zwischen exponentieller Ausbreitung eines Erregers und selbstregulierter Kontaktreduktion die Dynamik zurückgeht. Man betrachtet dabei den Reproduktionswert oder R-Wert, der angibt, wie viele weitere Personen eine infizierte Person im Mittel ansteckt. Beträgt dieser Wert 1, so steckt jede:r im Mittel nur eine weitere Person an, und die Zahl der Infizierten kann nicht exponentiell wachsen. In der Tat hat sich bei der Coronapandemie trotz unterschiedlicher Politik, gesellschaftlicher Strukturen und Verläufe in verschiedenen europäischen Ländern genau dieser Wert über viele Monate eingestellt, wenn man von statistischen Fluktuationen absieht.

Verkehr und Transport

In einer immer stärker vernetzten Welt treten immer häufiger auch unerwartete und unbeabsichtigte Effekte zu Tage. So kann etwa der Bau einer zusätzlichen Straße die Reisedauer durch ein Straßennetzwerk verlängern statt verkürzen und zu Staus führen. Eine mechanistische Analyse von Angeboten eines Fahrdienstes hat kürzlich einen anderen Effekt enthüllt und anhand der Spieltheorie erklärt: Aufgrund von automatischen Fahrpreisanpassungen, die eigentlich Angebot und Nachfrage aufeinander abstimmen sollten, bestehen für Fahrer:innen Anreize, zeitweise gemeinsam koordiniert gar keine Fahrten anzubieten. Dadurch kommt es zunächst zu Einnahmeausfällen, um jedoch danach von höheren Fahrpreisen zu profitieren. Die Fahrpreisanpassungen erreichten hier also das Gegenteil von dem, wofür sie gedacht waren.

Abkürzung mit umgekehrtem Effekt

Braessches Paradoxon: eine zusätzliche Abkürzung von B nach C verlängert die Reisedauer.

Wie lange dauert die Fahrt über die verschiedenen Routen? Wir bezeichnen mit x das Verkehrsaufkommen in 1000 Autos/Stunde von Stadt A nach Stadt D. Dann ergeben sich folgende Reisedauern (immer in Minuten) für die Teilstrecken im linken Szenario: Landstraßen L1 (AB) und L2 (CD): (0 + 10x), d. h. langsam, aber kürzere Wegstrecke mit einer großen Abhängigkeit vom Verkehrsaufkommen bei kleiner Kapazität. Autobahnen A1 (AC) und A2 (BD): 50 + x, d. h., schnell aber größere Wegstrecke mit geringer Abhängigkeit vom Verkehrsaufkommen. Zusammengefasst ergibt sich für die Reisen ACD oder ABD: 50 + x + 10x (z. B. für x = 6, d. h. je 3000 Autos/Stunde für beide Strecken, eine Fahrzeit von jeweils 83 min).

Für das rechte Szenario wird eine Abkürzung zwischen den Städten B und C hinzugefügt. Die Fahrzeit durch diesen Abschnitt beträgt 10 +x, d.h. schnell und kurze Wegstrecke mit geringer Abhängigkeit vom Verkehrsaufkommen bei großer Kapazität. Nun stellen sich folgende Effekte ein:

1. Wenn alle die Abkürzung benutzen (L1-K-L2, d. h. Route ABCD, niemand fährt über Autobahnen A1 und A2) ergibt sich als Fahrzeit: 10x + (10 + x) + 10x = 10 + 21 x (z. B. für x = 6 also 136 min) 2. Wenn alle 3 Routen gleichmäßig genutzt werden (insgesamt x = 6 mit je 2 über L1-K-L2, A1L2 und L1A2, d. h. Aufkommen von 4 auf L1 und L2), erhalten wir für die verschiebenden Routen Fahrzeiten von 10 ⋅ 4 + (10 + 2) + 10 ⋅ 4 = 92 für ABCD, 50 + 2 + 10 ⋅ 4 = 92 für ACD und 10 ⋅ 4 + 50 + 2 = 92 für ABD.

In beiden Fällen verlängert sich die Fahrzeit im Vergleich zu dem Szenario ohne Abkürzung!

Ein weiteres Beispiel für die übertragbare Anwendbarkeit von physikalischen Konzepten: Die Physik der Perkolation (Seite 234), ursprünglich für die Festkörperphysik entwickelt, kann dazu genutzt werden, Radwegenetze unter wirtschaftlichen Nebenbedingungen (wie etwa Gesamtbaukosten) viel effi­zien­ter zu planen, als es mit bisherigen Methoden möglich war. In ähnlicher Weise haben Forschende das Phänomen der Hysterese (siehe Seite 235) aufgedeckt. Bekannt ist es aus dem Magnetismus, in dem die Wirkung (Magnetisierung) einer Ursache (Magnetfeldänderung) pfadabhängig ist. Ein ähnliches Phänomen gibt es auch bei anfragegetriebenen Mobilitätssystemen wie etwa städtischen Taxiflotten. Hier wären die Fahrtanfragen die Ursache und die Auslastung die Wirkung. Arbeiten die Taxis die Anfragen genau in der Reihenfolge ihres Eintreffens ab, so büßen sie bis zur Hälfte ihrer Effizienz ein. Ein überraschender Ausweg: eine unfaire Zuordnung von Fahrzeugen auf Fahrtanfragen – sodass gerade nicht diejenigen mit einer Taxifahrt bedient werden, die zuerst angefragt haben!

Tatsächlich steht der sich schnell wandelnde Verkehrs- und Transportsektor insgesamt vor immensen Herausforderungen, wie den zu reduzierenden Treibhausgas- und Feinstaubemissionen, wirtschaftlichen Zwängen, Staus, Stress bei Verkehrsteilnehmenden und räumlichen Einschränkungen vor allem in Städten. Die meisten dieser Herausforderungen entstehen durch multiple Interaktionen und Rückkopplungen, Nichtlinearitäten und dadurch geprägte Selbstorganisationsprozesse. Die obigen Beispiele zeigen, dass die Physik hier helfen kann, Phänomene aufzuklären und Verbesserungen vorzuschlagen.

Energieversorgung

Ähnliches gilt für unser Verständnis und die Charakterisierung regenerativer Energiesysteme im großen Maßstab. So wurde das aus der Festkörperphysik und der statistischen Physik bekannte Phänomen sogenannter anormaler Fluktuationen, also nicht Gauß-verteilter Abweichungen von einem Mittelwert, auch in Frequenzmessungen von Stromnetzen festgestellt. Eine stochastische Analyse zeigte zudem, wie sich Fluktuationen in der Stromeinspeisung oder beim Verbrauch auf Frequenzfluktuationen auswirken. Dies verbessert wiederum unser Verständnis, wie wir die Funktion von Stromnetzen gegen Extremereignisse absichern können. Solche Untersuchungen ermöglichen insbesondere allgemeine Einsichten in komplex verschaltete Stromnetze ohne Kenntnis aller Details der Einspeisung, des Verbrauchs und der Zustände dieser Netze. Dieser systemübergreifende Ansatz und die Universalität des qualitativen Verhaltens unterstreichen die methodische Stärke der Physik komplexer Systeme als zukunftsweisende, sozioökonomisch hoch relevante wissenschaftliche Disziplin.

Gesellschaftliche Konflikte

Die schnelle Verfügbarkeit von Informationen und der Austausch auf vernetzten Plattformen wie sozialen Netzwerken und Diskussionsforen haben weitreichende Effekte auf die Kommunikation, die gesellschaftliche Organisation und die Meinungsbildung. Einerseits lassen sich Hintergründe schnell recherchieren. Die Existenz von freien Medien, einem zentralen Merkmal einer Demokratie mit der Funktion einer unabhängigen und kritischen Kontrollfunktion staatlichen Handelns, unterstützt diese Recherche. Andererseits steigt die Gefahr einer starken Polarisierung durch selektive Wahrnehmung von Informationen, die dem eigenen Standpunkt entsprechen und so die bereits vorgeprägte Meinung verstärken. Es entstehen Echokammern zu Ungunsten des Austauschs und des Diskurses mit anderen. Insbesondere Minderheiten werden dadurch leicht ausgeblendet. Der Pluralismus, der verschiedene politische, zivilgesellschaftliche, wirtschaftliche oder religiöse Interessengruppen beteiligen will, wird ausgehöhlt.

Der Bereich der sozioökonomischen Physik wendet Methoden aus der Physik auf soziale Systeme an, um die Mechanismen hinter solchen Prozessen besser zu verstehen. Dabei werden komplexe soziale und wirtschaftliche Phänomene mithilfe mathematischer Modelle, statistischer Analysen und simulationsbasierter Ansätze untersucht. Erkenntnisse aus dem Bereich emergenter Phänomene und kollektiver Dynamik haben zum Beispiel dazu beigetragen, einige wichtige Faktoren und Mechanismen für Chancenungleichheit zu identifizieren. Wie beeinflussen Bildungssysteme, Einkommensverteilung und soziale Netzwerke die Chancen und Möglichkeiten von Menschen? Wie kann Schutz und Förderung von Minderheiten gelingen? Durch die Anwendung von komplexen Systemmodellen (Vielteilchensysteme, Netzwerke, statistische Physik, Chaos) und Analysen gewinnen Physiker:innen Einblicke in die Mechanismen hinter Chancenungleichheit.

Die Schnell(leb)igkeit und Fülle von verfügbaren Informationen führen zu einem weiteren, viel untersuchten Effekt: der Fear of missing out (FOMO, zu deutsch: Angst, etwas zu verpassen). Smartphones und andere digitale Endgeräte erlauben uns, ständig und ortsunabhängig mit unseren sozialen und beruflichen Kontakten in Verbindung zu bleiben. Dabei kann die Sorge entstehen, Informationen, Ereignisse, Erfahrungen oder Entscheidungen, die tatsächlich oder nur scheinbar das eigene Leben verbessern könnten, zu verpassen. Dies kann zu psychischen Krankheiten wie Depressionen, Angstzuständen und einer verringerten Lebensqualität führen. Die Schnelllebigkeit von Informationen beschränkt sich dabei nicht nur auf den digitalen Raum. Auch offline lässt sich eine Beschleunigung des Alltags beobachten. So folgen Neuerscheinungen von Kinofilmen in immer kürzeren Abständen und die Schlagzeile einer Tageszeitung am Morgen ist am Abend schon veraltet, da sich die kollektive Aufmerksamkeit einem neuen Thema zugewandt hat. Auch hier helfen Modelle nichtlinearer Dynamik, diese soziale Beschleunigung zu analysieren und fundamentale Mechanismen zu identifizieren.

Dirk Brockmann, Philipp Hövel und Marc Timme