WISSEN
Grenzen überwinden

Spektroskopie und Quantenchemie: Vom Mikrokosmos zur Anwendung

Vorabversion

Ein sehr früher Erfolg der Quantenmechanik war die korrekte Beschreibung des Wasserstoffatoms. Es besteht aus einem einfachen Proton als Kern und aus einem einzelnen, sich darum bewegenden und daran gebundenen Elektron. Laut Quantenmechanik kann die Energie dieses Elektrons nicht alle möglichen, sondern nur ganz bestimmte Werte annehmen. Diese lassen sich mithilfe der Schrödingergleichung, welche das Elektron als Welle beschreibt, genau berechnen. Die Übergänge zwischen den Energieniveaus lassen sich zudem experimentell beobachten – in Form von absorbiertem oder ausgesendetem Licht bestimmter Wellenlängen, die sich hervorragend mit den quantenmechanischen Vorhersagen decken. Mit zunehmend verbesserten Lasertechnologien liefern solche Spektroskopieexperimente immer genauere Ergebnisse. Stand 2024 liegt die relative Genauigkeit für die Energie der Übergänge und damit auch für die daraus abgeleitete Bindungsenergie in Bereich von 10−10–10−15 und in Einzelfällen noch besser. Zudem „sieht“ das gebundene Elektron, wie schwer der Kern ist, an den es gebunden ist. Mit zunehmendem Gewicht des Kerns (von leichtem Wasserstoff über das doppelt so schwere Isotop Deuterium hin zum dreimal so schweren Tritium) steigt die spektroskopisch bestimmte Bindungsenergie des Elektrons um ein Viertel Promill. Das sagt das quantenmechanische Modell für das Wasserstoffatom ebenfalls vorher – aber aufgrund eines klassischen Effekts. Das quantenmechanische Elektron sieht die Zitterbewegung seines Kerns im Wasserstoffatom, und damit auch dessen Masse. Es verschieben sich dadurch je nach Masse des Atomkerns Energieniveaus, Übergänge und Bindungsenergie ein klein wenig. Das Elektron ist also gebundene Welle und gebundenes Teilchen gleichermaßen – ein Zustand, der weit jenseits unserer Vorstellungskraft liegt.

Den Tunneleffekt beobachten

Ob das Salzsäuremolekül HCl beim Kontakt mit Wassermolekülen intakt und ladungsneutral bleibt, oder ob sich Dissoziation und Ladungstrennung einstellt, hängt von der Reihenfolge ab: Wird zunächst ein kleiner Wassercluster gebildet, dann adsorbiert ein HCl-Molekül und bleibt intakt, bis weiterer Wasserdampf das HCl-Molekül umschließt. Wenn allerdings einzelne Wassermoleküle nacheinander auf ein HCl-Molekül treffen, wie z. B. unter Bedingungen wie im interstellaren Raum (niedrige Moleküldichten bei tiefen Temperaturen), dann kommt es zur direkten Bildung des kleinstmöglichen Tropfens Säure, und zwar durch Protonentransfer vom HCl zu einem Wassermolekül (untere Reihe).
HCl ist das Molekül, aus dem sich Salzsäure bildet, und zwar Chlorid Ionen (grün) und hydratisierte Protonen (H3O+, orange-gelb) in wässriger Lösung. Dafür braucht es mindestens vier Wassermoleküle

Dieses duale Verhalten – Welle und Teilchen – gilt für alle Atome, für Moleküle und sogar für Festkörper. Teilchenwellen können Energiebarrieren durchtunneln – je leichter die Teilchen, desto effektiver. Der Wasserstoffkern – ein Ion ohne eigene Elektronen – tunnelt demnach besonders effektiv, wie ein Alltagsbeispiel zeigt: So geht der saure Geschmack der Zitrone und anderer Säuren auf genau dieses Wasserstoffion zurück, das scheinbar ungehindert und schnell durch die wässrige Lösung hin zu unserer empfindlichen Zunge wandern kann. Genau hier setzt die Terahertz-/Ferninfrarot-Spektroskopie an und charakterisiert kollektive und molekülübergreifende Bewegungen. Präzisionsmessungen bei Temperaturen knapp über dem absoluten Nullpunkt an isolierten Wassertröpfchen, die so klein sind, dass wir die Wassermoleküle einzeln zählen können, zeigen: Es bedarf einer minimalen Anzahl von Wassermolekülen, bevor es zu einer Ladungstrennung von z. B. Salzsäure-(HCl)-Molekülen in bzw. an solchen Wasserclustern kommen und sich eine Säure ausbilden kann. Dabei verbindet sich der Wasserstoffkern H+ – also ein Proton – mit einem Wassermolekül (H2O) zu einem Hydroniumion H3O+, und drei weitere Wassermoleküle schirmen die negative Ladung des Chloridions und die positive Ladung des Hydroniumions voneinander ab. Auf ein HCl-Molekül kommen somit vier Wassermoleküle, um den kleinsten Tropfen Säure der Welt zu bilden – und dies geschieht erstaunlicherweise sogar spontan bei Temperaturen von −273° C, wie sie u. a. im interstellaren Raum vorkommen.

In flüssigem Wasser ist es die thermische Zitterbewegung der Wassermoleküle, die die Diffusion der sauren Protonen zwischen benachbarten Bindungsplätzen ermöglicht. Zur genaueren Aufklärung dieser Mechanismen können hier mit neuen Spektroskopien weitere Erkenntnisse gewonnen werden.

Auch schwerere Atome wie Kohlenstoff und Sauerstoff können tunneln. Um das zu untersuchen, können reaktive Moleküle, die als Zwischenprodukt in einer Reaktion entstehen, bei extrem niedrigen Temperaturen in einer Edelgas-Umgebung stabilisiert werden. Umwandlungen lassen sich spektroskopisch nachverfolgen, oft im Infraroten. Das erlaubt Vergleiche mit quantenchemischen Modellen. Die experimentellen Reaktionsgeschwindigkeiten sind gegenüber den Vorhersagen von Standardmodell um bis zu mehrere Größenordnungen beschleunigt. Diese Beschleunigung ist wahrscheinlich auf das Tunneln der schweren Atome durch Umwandlungsbarrieren zurückzuführen – auch wenn das im Mittel Stunden oder Tage dauern kann.

Das ständige Öffnen und Schließen von Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den Wassermolekülen lässt sich sehr gut im Terahertz-Frequenzbereich (THz, zwischen Infrarot- und Mikrowellenbereich) nachverfolgen. Durch die Entwicklung von neuen starken THz-Laserquellen kann man „live“ mit einer Auflösung von Pikosekunden verfolgen, wie das Ablösen eines Protons aus einem Molekül ein mikroskopisches Beben erzeugt und sich dieses als Wellenpaket im umgebenden Wasser fortsetzt.

Mit solchen und vielen weiteren Experimenten zeigt sich, dass es ein eng verwobenes Wechselspiel zwischen Theorie (Quantenchemie) und Experiment (Spektroskopie) erfordert, um Atome und Moleküle zu beschreiben. Dabei gelingt es durch genau dieses Wechselspiel, die Grenzen des Beschreibbaren, Verstandenen und Beherrschbaren langsam, aber stetig hinauszuschieben. Wurden anfangs nur einfache, kleine Moleküle als Modellsysteme beschrieben, so werden heute zunehmend größere molekulare Systeme mit steigender Komplexität behandelt, und auch die Wechselwirkungen zwischen den Molekülen lassen sich immer besser verstehen. Dadurch öffnet sich der Weg hin zu einer Beschreibung auf mikroskopischer Basis und mit einem molekularen Verständnis von Grenz- und Oberflächen, von Aggregaten und Clustern bis hin zu Flüssigkeitströpfchen und Aerosolen.

Essenziell für die Erweiterung der spektroskopischen Anwendungsbereiche ist die mittlerweile routinemäßige Steigerung der experimentellen Genauigkeit und parallel dazu die Interpretation gewonnener Spektren im Vergleich mit ebenfalls zunehmend präziseren quantenmechanischen Beschreibungen und quantenchemischen Berechnungen.

Mikrowellenspektroskopie

Die Entwicklung der chirped-pulse Fourier-Transform-Mikrowellenspektroskopie macht die Rotationsspektroskopie interessant für Anwendungen in der analytischen Chemie. Rotationsspektren sind charakteristisch für Moleküle wie ein Fingerabdruck. Außerdem erlaubt die Methode die gleichzeitige Messung eines großen Frequenzbereichs. So können auch komplexe Mischungen bestehend aus mehreren Molekülverbindungen untersucht und nach ihren Komponenten aufgeschlüsselt werden, wie z. B. im Verlauf und nach chemischen Reaktionen zur Reaktionskontrolle. Die molekularen Informationen aus diesen Rotationsspektren können in Datenbanken gespeichert werden, womit sie sich schnell und verlässlich auch in zukünftigen Messungen nachweisen lassen. Das öffnet die Tür in Richtung industrieller Anwendungen, wie etwa einer Online-Pro­zess­ana­lytik, die sich in Synthese- und Produktionsprozesse integrieren lässt.

Mit empfindlichen Messmethoden im Mikrowellenbereich können auch chirale Molekülverbindungen genau charakterisiert werden. Das gelingt mit der sogenannten Chiral-Tag-Spektroskopie, Moleküle, die aus den gleichen Bausteinen bestehen, können trotzdem räumlich unterschiedlich angeordnet sein. Dieser Umstand heißt Isomerie. Sind zwei Moleküle quasi bau- aber nicht deckungsgleich, verhalten sie sich also wie Spiegelbilder zueinander – so wie die linke und die rechte Hand –, so spricht man von Enantiomeren. Die Eigenschaft, die sie unterscheidet, ist die Chiralität. Enantiomere haben nahezu identische physikalische Eigenschaften, können sich aber in ihrer (bio-)chemischen Funktionalität dramatisch unterscheiden. die auf der Breitbandigkeit der modernen Mikrowellenspektroskopie basiert. Hierbei bilden die chiralen Molekülverbindungen, die es zu analysieren und nachzuweisen gilt, im Experiment in der Gasphase chemische Komplexe mit einer wohlcharakterisierten weiteren chiralen Verbindung. Diese Komplexe bilden sogenannte Diasteromere, die sich in ihrer Struktur unterscheiden und damit auch in ihren physikalischen Eigenschaften. So lassen sie sich in Rotationsspektren direkt unterscheiden. Ein anderer Ansatz zur Unterscheidung chiraler Moleküle basiert auf einem Mikrowellen-drei-Wellen-Mischansatz, der es zudem ermöglicht, die Populationen der Enantiomere in ausgewählten Rotationszuständen gezielt zu verändern, sodass die beiden Enantiomere in ihrer Energie getrennt werden können – eine wichtige Grundvoraussetzung für neuartige Experimente an chiralen Molekülen.

Vielseitig einsetzbar

Die physikalisch korrekte Beschreibung des Mikrokosmos strahlt aus auf andere Disziplinen und Anwendungen, wie etwa die Chemie und die Molekularbiologie bis hin zur Verfahrenstechnik und den Chemieingenieurwesen. Auch in der Medizin kommen optisch-spektroskopische Verfahren vermehrt zum Einsatz. Der Fingerclip zur optischen Messung der Sauerstoffsättigung im menschlichen Blut ist eines der einfachsten Beispiele. Auch die Erforschung der Materie im Weltall profitiert enorm von der spektroskopischen Charakterisierung selbst flüchtiger oder nur in Isolation stabiler Moleküle und Ionen in Laborexperimenten. Oft geschieht dies unter ultrakalten Bedingungen wie in isolierten Heliumtröpfchen knapp über dem absoluten Temperaturnullpunkt bei 0,37 K oder in kalten Überschallstrahlen bei 1–2 K. Der Nachweis von Molekülverbindungen, die im Weltall vorkommen und Zeugen einer reichhaltigen Chemie sind, erfolgt häufig durch radioastronomische Beobachtungen. Diese Forschungsrichtung profitiert unter anderem von einer experimentellen Neuerung: Die sogenannte chirped-pulse Fourier-Transform-Mikrowellenspektroskopie erlaubt die schnelle Aufnahme von spektroskopischen Fingerabdrücken auch von komplexen oder kurzlebigen Molekülen. Diese lassen sich direkt mit radioastronomischen Beobachtungen vergleichen und erlauben, Molekülverbindungen oder Bausteine des Lebens – wie Aminosäuren – im Weltall eindeutig zu identifizieren. Erst kürzlich wurde 2-Methyloxiran im interstellaren Raum nachgewiesen, was für Untersuchungen zum Ursprung des Lebens von Interesse ist.

Eine Herausforderung bei der Detektion von Molekülen im Weltall ist, dass diese teilweise auch in ionisierter Form vorliegen. Das bedeutet, dass sie spektroskopisch schwer zu untersuchen sind. Hierfür wurde aber kürzlich eine neues Nachweiskonzept entwickelt, bei dem die quantisierte Absorption von einzelnen Photonen über den nachfolgenden Verlust der angeregten Ionen aus einer Ionenspeicher-Falle detektiert wird, eine sogenannte „leak out spectroscopy“. Dieses neue Konzept erlaubt die sehr empfindliche Untersuchung von molekularen Ionen ohne Wechselwirkung mit der Umgebung und mit hoher Auflösung, was für andere spektroskopische Ansätze eine kaum lösbare Herausforderung darstellt.

Schließlich ist die optische Spektroskopie auch ein unentbehrliches Werkzeug zur Messung kinetischer und dynamischer Prozesse. Gerade hier zeigen sich besonders umwälzende Fortschritte, die sich durch konsequente Verkürzung der „Belichtungszeit“ von Nanosekunden durch kurze Laserpulse hin zu Pico- und Femtosekunden-Pulsen bis hin zu rekordverdächtig kurzen Laserpulsen im Attosekundenbereich ergeben. Es ist bemerkenswert, dass durch solch eine Attosekundenspektroskopie nun nicht nur die Bewegung der einzelnen Atome (auf der Femtosekunden-Zeitskala), sondern sogar die Dynamik der Elektronen in Echtzeit auf der Attosekunden-Zeitskala nachverfolgt werden kann. Das geht allerdings nur mit sehr hohen Anregungsenergien. Dass mit Attosekundenpulsen und den damit verbundenen neuen Technologien tatsächlich eine künstliche Photosynthese oder neue Halbleitermaterialien ermöglicht werden, ist in absehbarer Zeit zwar kaum zu erwarten. Richtig ist aber auch, dass jede technologische Entwicklung auf lange Sicht zu neuen, oft unvorhersehbaren Anwendungen und Verfahren geführt hat, die anfangs überhaupt nicht erkennbar waren.

Nobelpreis 2023

Mit dem Nobelpreis für Physik 2023 wurden Pierre Agostini, Anne L’Huillierund Ferenc Krausz gemeinsam für Arbeiten geehrt, die zusammen genommen eine neue Ultrakurzzeitspektroskopie mit Attosekundenpulsen ermöglicht.

Zu ihren Leistungen gehören die Entwicklung von Ultrakurzpulslasern und den Werkzeugen zu deren Charakterisierung sowie das theoretische Verständnis der zugrundeliegenden Prozesse. Dabei steht die gegenwärtige Attosekundentechnologie in der Tradition vorheriger Arbeiten und benutzt diese Techniken, wie etwa Frequenzkämme (Physik-Nobelpreis 2005) und der Chirped-Pulse-Amplification (CPA) in Titan-Saphir Materialien (Physik-Nobelpreis 2018). Es wurde dadurch möglich, mit den immer intensiveren Femtosekundenlasern eine Ionisationsdynamik in atomarer Materie so zu steuern, dass eine anschließende elektronische Rekombination der anfangs emittierten Elektronen zur kohärenten Emission von höheren Harmonischen (high harmonic generation, HHG) in Form von Attosekunden-Pulszügen und schließlich sogar von einzelnen Attosekundenpulsen führt.

Diese aufwendigen Lasertechniken zusammengenommen ermöglichen es, nachgeschaltete Untersuchungen auf bisher unerreichbaren Zeitskalen von wenigen Attosekunden (bis zu 60⋅10−18 Sekunden) durchzuführen. Auf diese Weise lassen sich Elektronen in Atomen und Molekülen lokalisieren und deren Verschiebungen in Echtzeit kontrollieren, aber auch Ladungsströme in Festkörpern steuern. Es wird prinzipiell möglich, Elektronen beim Brechen und Bilden von Molekülbindungen zu beobachten, wenn auch zunächst bei sehr hohen Anregungsenergien. In Zukunft können Forschende vielleicht weitere Einblicke in Reaktionsmechanismen gewinnen. Dass damit chemische Prozesse optimiert werden, die in Bereichen wie der Katalyse und der Arzneimittelforschung Anwendung finden, ist gegenwärtig jedoch noch weitgehend Zukunftsmusik.

Erstaunlicherweise hat sich allerdings bereits recht konkret gezeigt, dass Attosekundenpulse durch ihre sehr hohen Feld­stär­ken möglicherweise Fortschritte in der medizinischen Bildgebung erzielen können, indem sie z. B. die spektroskopische Charakterisierung einzelner lebender Zellen in Echtzeit und im Vorbeiströmen ermöglichen. Von dieser eindrucksvollen Leistungssteigerung in der Bioanalytik ist es jedenfalls noch ein weiter Weg bis hin zu einer in Aussicht gestellten einzelzellbasierten Krebsdiagnostik.

Martina Havenith, Melanie Schnell und Gereon Niedner-Schatteburg