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Das Kleinste und das Größte

Quantengravitation

Es gibt viele überzeugende Gründe, warum neben allen Teilchen- und Wechselwirkungsfeldern auch die Gravitation zu quantisieren ist. Weltweit wird an verschiedenen theoretischen Ansätzen gearbeitet und versucht, beobachtbare Konsequenzen herzuleiten.

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In der Quantengravitation wollen wir die Quanteneigenschaften der Gravitation verstehen. Unser Ausgangspunkt sind Gravitationswellen. In der Quantenphysik gibt es eine Dualität zwischen Wellen und Teilchen; so hat Licht sowohl Eigenschaften einer Welle als auch eines Teilchens, des Photons. Wir erwarten, dass diese Dualität auch für die Gravitation gilt und Gravitationswellen sich durch Teilchen, Gravitonen, beschreiben lassen. Gravitonen haben einen Spin von 2, ihr Eigendrehimpuls ist also doppelt so groß wie der von Photonen; ihre Masse ist wahrscheinlich Null (Beobachtungen beschränken die Masse auf kleiner als 10−32 eV/c2 oder 10−68 kg). Gravitonen treten mit allen Formen von Energie in Wechselwirkung – und daher auch mit anderen Gravitonen. Die Stärke der Wechselwirkung hängt jedoch von der Energie ab. Zum Beispiel interagieren die Gravitonen in einer Gravitationswelle, die beim Verschmelzen zweier astrophysikalischer Schwarzer Löcher entsteht und vom LIGO/VIRGO/KAGRA-Detektornetzwerk detektiert wird, praktisch gar nicht miteinander.

Das Elektronenvolt, eV, ist eine Energieeinheit besonders in der Teilchenphysik. Photonen sichtbaren Lichts haben eine Energie von 1,6 bis 3,3 eV, Teilchen im Large Hadron Collider prallen mit 104 Giga-Elektronenvolt (GeV, 1 000 000 000 eV) aufeinander.

Wegen dieser schwachen Wechselwirkung ist es bisher unmöglich, einzelne Gravitonen zu detektieren. Ihre Wechselwirkungsstärke vergrößert sich jedoch, wenn die Massen der verschmelzenden Schwarzen Löcher sehr viel kleiner wären, denn dann würde die Frequenz der Gravitationswelle steigen und nach E = hν auch die Energie der Gravitonen. Bei der Planck-Energie von 1019 GeV wird die Wechselwirkungsstärke so groß, dass die theoretische Beschreibung zusammenbricht und die Theorie ihre Vorhersagekraft verliert.

Das Forschungsziel ist daher, eine Theorie zu entwickeln, die Gravitonen oberhalb dieser Energie beschreibt. Eine zentrale Schwierigkeit hierbei ist, dass Gravitonen nicht einfach nur Teilchen sind, die durch die Raumzeit propagieren. Stattdessen ist die Raumzeit selbst dynamisch, d. h., Zeiten und Längen ändern sich dynamisch. Gravitationswellen beschreiben solche Änderungen, und Gravitonen sind diskrete, quantisierte „Mengen“ einer solchen Änderung. Theorien der Quantengravitation fragen daher auch nach der fundamentalen Quantenstruktur der Raumzeit. Unser aktuelles Verständnis der fundamentalen Struktur der Raumzeit (die allgemeine Relativitätstheorie) bricht zusammen, denn berechnet man die Krümmung der Raumzeit im Inneren eines Schwarzen Lochs, oder auch in der Vergangenheit unseres Universums, so ergibt sich eine anwachsende Krümmung, die schließlich unendlich wird. Diese Unendlichkeit ist physikalisch unsinnig und signalisiert, dass die allgemeine Relativitätstheorie in diesem Bereich nicht gelten kann.

Die verschiedenen theoretischen Ansätze, die entwickelt wurden und werden, um die Struktur der Raumzeit zu beschreiben, unterscheiden sich stark und umfassen z. B. eine fundamentale Skalensymmetrie, bei der die Raumzeit fraktal und selbstähnlich wird (in der „asymptotisch sicheren Quantengravitation“), oder fundamentale Diskretheit, bei der die Raumzeit auf kleinsten Skalen aus fundamentalen, unteilbaren „Atomen“ der Raumzeit besteht (z. B. in der Schleifenquantengravitation).

Diese theoretischen Ansätze gehen oft über unser anschauliches Vorstellungsvermögen hinaus und lassen sich in unserer Alltagssprache schwer formulieren. Daher wird die Mathematik als abstrakte Sprache benutzt. In dieser Sprache beschreiben wir die Struktur der Raumzeit präzise und treffen Vorhersagen für experimentelle Tests. Wegen der hohen Energien, die man bräuchte, um die Wechselwirkung von Gravitonen zu testen oder die fundamentale Struktur der Raumzeit aufzulösen, sind experimentelle Tests schwierig und benötigen kreative Ideen. Eine solche Idee kommt aus der Astrophysik: Wenn Licht über Millionen von Lichtjahren reist, dann können die winzigen Effekte, die die fundamentale Struktur der Raumzeit am Licht verursacht, sich messbar aufsummieren. Eine zweite spekulative Idee betrifft Schwarze Löcher und besagt, dass Modifikationen durch Quantengravitationseffekte vielleicht nicht nur im Zentrum eines Schwarzen Lochs zu finden sind, sondern möglicherweise sogar schon die Raumzeit am Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs beeinflussen. Sogar unser Universum als Ganzes kann man als Quantengravitationsexperiment begreifen, denn es expandiert ausgehend von einer frühen Phase, in der Energien so hoch waren, dass Effekte der Quantengravitation sehr wichtig waren. Im Moment sind die meisten Theorien aber noch nicht weit genug entwickelt, um dieses „Universum als Experiment“ nutzen zu können.

Insgesamt ist die Quantengravitation ein sich stark entwickelndes Forschungsfeld, in dem spannende Fragen wie „Gibt es eine kleinste messbare Länge?“, „Gibt es außer dem Graviton noch weitere fundamentale Anregungen der Raumzeit?“ und „Hat das Universum einen Anfang?“ noch keine Antwort haben.

Astrid Eichhorn