Was sind typische Beispiele für Aspekte der Ethik, die bei der Forschung bedacht werden müssen?

Ulrike Beisiegel: Typisch sind sicherheitsrelevante Fragen zu Risiken im Umgang mit Menschen, Tieren und der Natur (Umwelt), wie es auch die gemeinsame Kommission von Deutscher Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Leopoldina definiert. Der Begriff „sicherheitsrelevant“ kann dabei in sehr verschiedene Richtungen interpretiert werden. Es kann die Sicherheit der Forschenden selbst oder der oben genannten Bereiche betreffen, aber auch die Sicherheit der Forschungseinrichtungen oder die Sicherheitspolitik von Staaten. In der aktuellen Diskussion dominiert die Frage der möglichen militärischen Nutzung der Forschung im Sinne der Dual-Use-Anwendungen sowie der Weitergabe von vertraulichen Daten an nicht-sichere Drittstaaten.
In welchen Aspekten betrifft dies die Physik?
Da physikalische Methoden in sehr vielen Forschungsbereichen eine Rolle spielen, ist die Physik auch oft betroffen. Ein Beispiel: Tierversuche an Teilchenbeschleunigern! Physik ist zudem die Grundlage aller technischen Entwicklungen und der meisten wirklichen Innovationen (siehe KI). Die Dual-Use-Frage ist damit eigentlich bei jedem physikalischem Erkenntnisgewinn zu stellen, und die innovative Weiterentwicklung sollte dann von klugen ethischen und fachlichen Abwägungen entsprechend begleitet werden.
Gibt es Unterschiede in Fragen der Ethik des Forschungsprozesses und des Forschungsgegenstands?
Ja. Ethische Aspekte des Forschungsprozesses liegen zunächst in der guten wissenschaftlichen Praxis – also dem Gebot der Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen sowie der Einhaltung des Rechts und der Regeln des Wissenschaftssystems. Dazu kommt die Wahl der Methoden, mit denen der Forschungsgegenstand untersucht werden soll. Diese sollten ethisch vertretbar sein (z. B. bei Tierversuchen).
Ein Forschungsgegenstand selbst ist dann unethisch, wenn er sich in seiner Zielsetzung gegen die Würde oder das Leben des Menschen richtet oder gegen relevante Werte verstößt. Bei militärischer Forschung gilt das beispielsweise für die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen.
Welche formalen Mechanismen gibt es an Forschungseinrichtungen?
Nach der Empfehlung der DFG und Leopoldina aus 2014 sollte jede wissenschaftliche Einrichtung eine „Kommission für Ethik in der Forschung“ haben. Davon unabhängig gibt es seit langem Ethikkommissionen in der Medizin, die die Durchführung von Studien am Menschen beaufsichtigen. Für ethische Fragen im Forschungsprozess ist auch das Ombudssystem Ansprechpartner.
Was hat Ihr Interesse für das Thema Wissenschaft und Ethik geweckt? Welche Aspekte sind Ihnen besonders wichtig?
Aus der medizinischen Forschung kommend habe ich erlebt, wie der Enthusiasmus für eine Forschungsidee und der Karrieredruck ethische Aspekte in den Hintergrund drängen kann. Ich habe auch erlebt, wie Daten manipuliert wurden und wie wenig ethische Fragen in der medizinischen Forschung diskutiert werden.
Die DFG hatte mich dann 1996 in die Kommission zur Erarbeitung der Regeln zur guten wissenschaftlichen Praxis berufen, und ich habe mich in den verschiedenen Positionen meiner Karriere aktiv für Integrität in der Wissenschaft eingesetzt. Dabei habe ich die große Bedeutung ethischer Fragen im Forschungsprozess kennengelernt.
Heute ist mir wichtig, dass gerade bei völlig neuen, zunächst attraktiv erscheinenden Innovationen ethische Fragen nicht außer Acht gelassen werden. Konkret sollte der Technikfolgenabschätzung hier wieder ein größerer Stellenwert eingeräumt werden, auch wenn das natürlich Zeit kostet.
Was sind aus Ihrer Sicht die größten ethischen Gefahren der naturwissenschaftlichen Forschung?
Das Geo-Engineering birgt sicher die größten Risiken und Gefahren für unseren Planeten, der dabei zu einem Reallabor mit unabsehbaren Folgen wird.
Sicher ist für die Physik die Entwicklung der Atombombe eine Zäsur in der ethischen Bewertung der Forschung. Das liegt nun lange zurück – welche Aspekte sind es heute, die hier betrachtet werden müssen?
Ein noch heute wichtiger Aspekt aus der Physik bei der Entwicklung der Atombombe ist die Übernahme von Verantwortung der 18 Atomphysiker mit der Göttinger Erklärung von 1957. Das sollte ein Vorbild für die Wissenschaft heute sein. Die Wissenschaft muss den Menschen in noch einfacherer Sprache klar machen, dass der Klimawandel die Erde und uns tatsächlich gefährdet und auch noch deutlicher die Politik beraten. Dabei ist es wichtig, mit einer Stimme zu sprechen und so etwas wie eine „Europäische Erklärung“ zur Bedeutung des Klimawandels herauszugeben.
Kann sich die Physik in dem Maße von den Personen der Forschenden frei machen, wie sie es mit ihrem Objektivitätsanspruch reklamiert?
Nein. Jede Forschung ist durch das Subjekt, die forschende Person, beeinflusst. Das gilt für das Design der Experimente, für die Durchführung und für die Interpretation der Ergebnisse. Objektivität kann erst durch kritisches Hinterfragen durch andere Forschende und den sich daraus ergebenden verifizierenden Experimenten entstehen. Praktisch ergibt sich das durch eine Akzeptanz von Ergebnissen und ihrer Interpretation durch die gesamte Fachgemeinschaft.