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Wissenschaft verbindet: Science Diplomacy

Naturwissenschaftliche Forschung hat viel zum Verständnis unserer Welt beigetragen und das Wissen der Menschen bereichert. Heute findet Wissenschaft und insbesondere die Physik mehr denn je in internationaler Zusammenarbeit statt.

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Forschungsprojekte, Konferenzen und ein kontinuierlicher Wissensaustausch bringen Wissenschaftler:innen zu gemeinsamer Forschungsarbeit und Lehre täglich zusammen. Zugleich helfen wissenschaftlicher Austausch und internationale Kooperationen, das gegenseitige kulturelle Verständnis jenseits von politischen und ideologischen Barrieren zu verbessern. Grundsätze wie Integrität, Transparenz und Reziprozität sind international akzeptierte Leitprinzipien der Wissenschaft. Sie kann im besten Fall Brücken bauen und zu Frieden und Völkerverständigung beitragen. Die Wissenschaft soll dem Wohlergehen aller Völker und einer nachhaltigen Zukunft dienen – so formulierten es die Wissenschaftsminister:innen der G7-Staaten 2022 in Frankfurt. Aber ist es ein Naturgesetz, dass Wissenschaft international sein muss und dass gleichsam automatisch „Wissenschaft als Mittel zur Verständigung der Völker“ dienen kann?

Unter dieser Überschrift erklärte der durch seinen Beitrag zur Quantenphysik berühmt gewordene Werner Heisenberg, der freilich auch am deutschen „Uranprojekt“ beteiligt war, im Juli 1946 den Studierenden der jüngst wiedereröffneten Göttinger Universität, dass man es sich nicht zu leichtmachen dürfe, hatte man doch gerade noch im „Dritten Reich“ versucht, Wissenschaft als national und durch „Rasse“ bedingt zu definieren. Dennoch fand Heisenberg die Internationalität und völkerverbindende Kraft insbesondere der Physik einerseits darin, „dass sie den Blick zu dem zentralen Bereich wendet, von dem aus sich die Welt im Ganzen ordnet, vielleicht also einfach dadurch, dass sie schön ist.“ Zum anderen aber hat die Wissenschaft „durch ihre praktischen Auswirkungen tatsächlich einen größeren Einfluss auf das Leben der Völker. Wohlstand und politische Macht hängen von dem Stand der Wissenschaft ab, und an diesen praktischen Konsequenzen kann die Wissenschaft auch dann nicht vorbeigehen, wenn ihr eigenes Interesse an der Wissenschaft aus anderen und reineren Quellen fließt.“

Im Kern begründete für Heisenberg die Universalität wissenschaftlicher Erkenntnis, wie sie sich etwa im Verständnis physikalischer Phänomene zeigt, die menschenverbindende Kraft der Wissenschaft (eine Idee, die sich schon bei Max Planck findet), und nicht deren segensreiche Anwendungen. Ihre Bedeutung für Wohlstand und Lebensqualität gibt der Wissenschaft dennoch einen besonderen Hebel, auch diplomatisch zu wirken.

„Wissenschaft ist die Basis, um sachlich und vorurteilsfrei international zusammenzuarbeiten.“

https://physik-erkenntnisse-perspektiven.de/heuer-zach

Wie die internationale Zusammenarbeit in der Praxis aussieht, haben Rolf Heuer (ehemaliger CERN-Generaldirektor) und Karin Zach (DPG-Vorstandsmitglied für internationale Aktivitäten) in einem Videobeitrag für dieses Buch dargestellt. Schauen Sie online das gesamte Video an.

Am Beispiel des 1954 gegründeten CERN und des 2008 eingeweihten SESAME in Jordanien verdeutlichen Karin Zach und Rolf Heuer, dass international betriebene Wissenschaft mehr ist als die Zusammenarbeit verschiedenster Forscher:innen. Mit der Logik als Grundlage der Physik und einer gemeinsamen Fragestellung lassen sich kulturelle Grenzen überwinden und ein Mehrwert aus den unterschiedlichen Denkweisen und Erfahrungswerten Menschen unterschiedlichster Herkunft ziehen. Wenn Forschung mit einem gemeinsamen Ziel auf Augenhöhe betrieben wird, schafft sie eine gemeinsame Ebene und überwindet Grenzen. Viele Fragen in der Wissenschaft sind nämlich nicht national lösbar, erklärt Karin Zach. Heute arbeiten am CERN 12 000 Wissenschaftler:innen aus 110 Ländern zusammen. Im ­SESAME in Jordanien sitzen Forschende aus Israel und Palästina zusammen an einem Tisch und arbeiten unabhängig vom politischen Geschehen in ihren Herkunftsländern an Fragestellungen der Physik, so Heuer. Die Geschichte zeigt: Schon im kalten Krieg war gemeinsam betriebene Wissenschaft das verbindende Element, und auch heute kann sie diplomatische Kanäle öffnen und Horizonte erweitern.

Der internationale Charakter physikalischer Forschung

Die Notwendigkeit für gemeinsame internationale Projekte liegt heute freilich in der Komplexität der Herausforderungen begründet: Einige Forschungsbereiche, wie die Antarktisforschung oder die Ozeanografie, sind ohne internationale Kollaboration bei Messungen und Experimenten und ohne die Vernetzung von Forschungsstationen auf verschiedenen Kontinenten nicht möglich. Im Angesicht neuer globaler Herausforderungen – wie etwa dem Klimawandel, den Auswirkungen neuer Technologien oder auch Pandemien – wird offenkundig, dass sich solche Probleme nur gemeinsam lösen lassen.

Ein gewichtiger Grund für die internationale Zusammenarbeit sind auch die mit der Forschung verbundenen Kosten, die Staaten nicht einzeln tragen können oder wollen, so etwa bei Großgeräten wie Teleskopen, Teilchenbeschleunigern oder Fusionsreaktoren. Die Internationale Raumstation ISS oder die Fusionsanlage ITER haben allein durch ihre herausgehobene Lage und kollaborative Organisation eine völkerverständigende Rolle. Ein besonderes Beispiel ist das Synchrotron SESAME in Jordanien, an der Wissenschaftler:innen verfeindeter Länder aus dem Nahen Osten gemeinsam forschen. Solche internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit nimmt den Charakter von Diplomatie an, wenn hier Wissenschaftler:innen eine gemeinsame Sprache sprechen, sich zu Neutralität und Objektivität verpflichtet fühlen und naturwissenschaftlichen Gesetzen und Prinzipien folgen, die überall gültig und nicht national gebunden sind.

Inzwischen ist „Science Diplomacy“ oder Wissenschaftsdiplomatie zu einem oft benutzten Begriff geworden. Internationale Organisationen haben ihre Bedeutung seit etwa 15 Jahren erkannt, insbesondere die britische Royal Society und die American Association for the Advancement of Science (AAAS). Letztere gründete 2008 ein „Center for Science Diplomacy“ und gibt die Zeitschrift „Science Diplomacy“ heraus. Die Europäische Union hat eine „Science Diplomacy Alliance“ gegründet und Workshops zu dem Thema durchgeführt. Das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland hat im Dezember 2020 ein Konzept zur Außenwissenschaftspolitik beschlossen, „um das Kooperationsverhältnis zwischen Außenpolitik, Wissenschaft, Citizen Science und Wis­sen­schafts­kom­mu­ni­ka­tion im internationalen Prozess zu verankern.“

Drei Dimensionen von Wissenschaft und Diplomatie

Zur Konkretisierung des heute immer stärker benutzten Begriffs „Science Diplomacy“ ist die Unterscheidung von drei Dimensionen hilfreich:

„Wissenschaft in der Diplomatie“ umfasst die Nutzung wissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse zur Unterstützung der jeweiligen nationalen Außenpolitik. Beispielsweise sind Wissenschaftler:innen im Rahmen mancher Projekte im diplomatischen Dienst tätig oder werden zu Verhandlungen hinzugezogen, bei denen eine wissenschaftliche Expertise notwendig ist, wie etwa beim Nichtverbreitungsvertrag von Nuklearwaffen (siehe Seite 326). Da Staaten im Allgemeinen unterschiedliche außenpolitische Schwerpunkte haben, unterstützen sie entsprechend wissenschaftliche Beziehungen vor allem zu ausgewählten Staaten. In manchen technologierelevanten Themenfeldern ist es von zentraler Bedeutung, dass wissenschaftliche und technische Prinzipien und Entwicklungsoptionen von Akteur:innen in Diplomatie und Parlamenten auch im Detail verstanden werden, weshalb hier aktive Aufklärungsarbeit notwendig ist.

In Demokratien hat eine „öffentliche Wissenschaft“ die Aufgabe, bei neuen Erkenntnissen die Öffentlichkeit ebenso wie die Politik auf mögliche problematische Folgen hinzuweisen. Auch wenn die auf Grundlagenforschung beruhenden Entwicklungen oft schwer abzuschätzen sind, sind es zuerst Wissenschaftler:innen, die fundiert die Entwicklungspfade und Verwertungskonsequenzen durchdenken. Freilich haben die meisten Forschenden kaum Zeit und nicht immer Motivation dafür, doch geeignete Institutionen können hier durch Gutachten wertvolle Dienste leisten. So gibt es das in Berlin angesiedelte „Büro für Technik-Folgenabschätzung beim Deutschen Bundestag“ und in Bezug auf Fragen der Innovationsfähigkeit und Risiken für Mensch und Gesellschaft die naturwissenschaftliche Friedensforschung.

„Diplomatie für die Wissenschaft“ ist der Bereich, den Wissenschaftler:innen im täglichen Betrieb in erster Linie vor Augen haben: die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit. Dieser beschreibt die diplomatische Unterstützung für internationale Großprojekte wie beispielsweise das Forschungszentrum CERN, das Gravitationswellenobservatorium LIGO oder SESAME. Bi- und multilaterale Gespräche und Verhandlungen sollen internationale Kollaborationen mit anderen Staaten und aufgeschlossenen Akteur:innen ermöglichen. Internationale Großprojekte tragen durch die gemeinsame Arbeit von Hunderten oder gar Tausenden von Forschenden aus verschiedensten Ländern direkt zum gegenseitigen Verständnis für kulturelle Besonderheiten und Denkweisen und damit zur Verständigung zwischen den Völkern bei.

Oft wird zu dieser Kategorie die Nutzung von Wissenschaft zur Verbesserung internationaler und nationaler Zusammenarbeit im Rahmen wissenschaftsinduzierender Entwicklungspolitik durch Organisationen wie die UNESCO, ALLEA oder IUPAP gerechnet. Auf nationaler Ebene tragen Organisationen wie der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) und die Humboldt-Stiftung aktiv dazu bei, indem sie Forschenden Auslandsaufenthalte finanzieren und somit internationale Kontakte ermöglichen sowie Fragen zur Wissenschaftsmobilität oder zur Bildung von neuen Netzwerken über Ländergrenzen hinweg diskutieren und gegebenenfalls realisieren.

UNESCO Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (gegründet 1945).

ALLEA All European Academies ist ein Zusammenschluss von Akademien der Wissenschaften und ähnlichen Einrichtungen in Europa (gegründet 1994).

IUPAP Internationale Union für reine und angewandte Physik, eine internationale Nichtregierungsorganisation zur Förderung und Vereinheitlichung der Physik (gegründet 1922).

Dieses Konzept wurde insbesondere von der Royal Society, der AAAS und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina verfolgt. Sie identifizierten diverse Absichten einzelner Akteure (Staaten, internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen), neue Aktionsfelder und Umsetzungen, in denen die Wissenschaften mit ihrer Expertise eine wichtige Rolle spielen können. Ausgehend von der jeweiligen nationalen Sicht gibt es bezüglich der Auswahl von Themen und Handlungsfeldern naturgemäß Unterschiede.

Als „Wissenschaft für die Diplomatie“ kann man den Beitrag von Wissenschaftsorganisationen und Wissenschaftler:innen zur Verbesserung der internationalen Beziehungen zwischen Ländern und aktive Versuche von Konfliktlösungen bezeichnen. Die Leopoldina formuliert das derzeit folgendermaßen:

„Wenn offizielle Kanäle eingeschränkt sind, kann die Wissenschaft helfen, Vertrauen wiederherzustellen und Glaubwürdigkeit aufzubauen. Gleichzeitig trägt die Wissenschaftsdiplomatie zur Vertiefung bestehender Partnerschaften und zum besseren gegenseitigen Verständnis in den internationalen Beziehungen bei. Sie ermöglicht einen konstruktiven Dialog über nationale und kulturelle Grenzen hinweg […] Wissenschaftsdiplomatie unterstützt zudem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in aller Welt, die Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Eine weitere Dimension besteht darin, wissenschaftliche Expertise zur Überwindung globaler Herausforderungen und akuter Krisen zu nutzen.“

Historisch geht diese Perspektive auf die „Pugwash Conferences on Science and World Affairs“ zurück, die seit 1957 stattfinden, also bereits früh im Kalten Krieg begannen. Hier wurden (wie auch bei einigen nationalen Akademien der Wissenschaften, etwa der USA, Russlands und Chinas) über lange Zeit Hintergrundgespräche geführt und Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen vorbereitet. Auch die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA entstand unter anderem in diesem Rahmen. Das war möglich, da sich Wissenschaftler:innen politisch unverdächtig über die Blockgrenzen hinweg treffen konnten, eine gemeinsame Sprache hatten und humanitäre Verantwortung übernahmen. Oft ist ein genaues Verständnis für die Nutzung jeweils aktueller Technologien notwendig, etwa um ein teures und gefährliches Wettrüsten zu verhindern. Im Kalten Krieg und in der Folgezeit brachte Pugwash Wissenschaftler:innen, Entscheidungsträger:innen und Expert:innen zur Konfliktlösung in Bereichen zusammen, in denen der Einsatz von Massenvernichtungswaffen, insbesondere von Nuklearwaffen, eine offensichtliche Gefahr darstellte.

Die Erfolge dieses Ansatzes wurden mit dem Friedensnobelpreis von 1995 honoriert. Das Pugwash-Netzwerk gibt es bis heute und es erscheint vor dem Hintergrund aufflammender Konflikte und Spannungen wichtiger denn je.

Neue Herausforderungen in der Geopolitik

Die Wissenschaftsdiplomatie steht in Zeiten zunehmender Spannungen und Konflikte vor neuen Herausforderungen: Der Verdrehung von Fakten, dem bewussten Platzieren von Falschinformationen oder der konstanten Manipulation von Wahrheiten muss auch von wissenschaftlicher Seite widersprochen werden, gerade da, wo wissenschaftliche Grundlagen im Spiel sind. In Diktaturen gelangen auch Wissenschaftler:innen zunehmend unter Druck. Fast zwanzig Physikfachgesellschaften und internationale Organisationen haben im Jahr 2023 das Grundsatzpapier „Prinzipien und Politiken für internationale wissenschaftliche Kollaborationen“ verabschiedet, das das Prinzip der Integrität für faire, offene und vertrauensvolle Forschung, Transparenz zwischen allen Partnern und Gegenseitigkeit beim Austausch von Wissen und Material anstrebt.

Die Wissenschaft sollte sich nicht durch geopolitische Rivalitäten instrumentalisieren lassen, sondern muss basierend auf ihren eigenen Kontakten zu Frieden und Völkerverständigung beitragen. Daher dürfen auch in der aktuellen Situation funktionierende Wissenschaftsnetzwerke und der internationale Charakter von Projekten nicht zerstört werden. Schließlich muss auch in die künftige Generation von Forschenden und in kommende gesellschaftliche Diskurse investiert werden, bei denen die Wissenschaft selbst eine wichtige Rolle spielt. Die Freiheit wissenschaftlichen Denkens sowie ideologisch unverbaute und rationale Dialoge sind gerade dann nötig, wenn es um komplexe Konflikte und Probleme geht. Gleichzeitig tragen die wissenschaftliche Gemeinschaft als Ganzes wie auch unabhängige Einzelpersonen und Forschungseinrichtungen eine besondere Verantwortung dafür, der Gesellschaft zu helfen, etwa die Auswirkungen von destabilisierenden Entwicklungen besser zu verstehen und gefährliche Risiken für die Menschenwürde, das Leben, die Gesundheit, die Freiheit, die Demokratie, das Eigentum und die Umwelt zu begrenzen. Diese Punkte müssen in die Ausbildung junger Wissenschaftler:innen einbezogen werden. Ebenso ist es Aufgabe der Wissenschaft, sich mit ihrem Faktenwissen an öffentlichen Debatten zu kritischen Themen zu beteiligen und selbst Position zu beziehen. Dies spiegelt sich auch in der Satzung der DPG wider, in der ihre Mitglieder verpflichtet werden, für „Freiheit, Toleranz, Wahrhaftigkeit und Würde in der Wissenschaft einzutreten.“ Darüber hinaus unterstreicht die Satzung eine besondere Verantwortung, sich „bewusst zu sein, dass die in der Wissenschaft Tätigen für die Gestaltung des gesamten menschlichen Lebens in besonders hohem Maße verantwortlich sind.“

Götz Neuneck, Arne Schirrmacher und Karin Zach