MENSCHEN
Für die Gesellschaft

Technikfolgen und Gesellschaft

Technologien verändern unsere Gesellschaft. Auch die Physik hat deshalb eine besondere gesellschaftliche Verantwortung, mögliche Technikfolgen offen zu kommunizieren und zu diskutieren.

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Ob es um die Geheimnisse des Universums, die Ausbreitung von Aerosolen in der Covidpandemie, den Klimawandel oder das Higgs-Teilchen geht: Die Physik wird von der Gesellschaft primär aufgrund ihrer grundlegenden Erkenntnisleistungen geschätzt. Nicht zufällig haben einige Physiker:innen als Welterklärer mediale Prominenz und Physik-Nobelpreise sorgen stets für neue Aufmerksamkeit.

Dieses der Physik entgegengebrachte Vertrauen bedarf eines verantwortungsvollen Umgangs. Das impliziert auch eine erkenntnistheoretische Bescheidenheit, mit der die gelegentlich an Physiker:innen herangetragenen Wünsche nach allumfassender Welterklärung und -deutung diskutiert werden müssen. Die fortschreitenden Erkenntnisse der Physik beziehen sich auf das, was ihren Methoden zugänglich ist. So erzeugtes Wissen wiederum generiert neue Erkenntnisse und eröffnet technische Möglichkeiten, die in der modernen Welt stets Eigendynamiken entwickeln und auch in Zukunft entwickeln werden.

Zwischen Erkenntnis und Anwendung

Auch wenn Technik oft als „angewandte Physik“ entsteht, z. B. in Bereichen wie der Nanotechnologie, Energiekonversion oder Raumfahrt, erschöpft sich ihre Rolle als Anwendung naturwissenschaftlichen Wissens darin nicht. Vielmehr hat Technik auch eine ermöglichende Rolle in der physikalischen Forschung, z. B. in der Nutzung digitaler Technologien für die Datenauswertung oder in großen experimentellen Anlagen: So arbeitet der Large Hadron Collider (LHC) am CERN trotz seines riesigen Technikbedarfs primär erkenntnisorientiert. Insofern unterstützt die Physik einerseits den technischen Fortschritt durch neue und technisch nutzbare Erkenntnisse, ohne dass der technische Fortschritt selbst ihr Hauptanliegen ist. Andererseits profitiert sie von diesem Fortschritt und ist sogar auf ihn angewiesen.

Physik und Technik sind also in gewisser Weise zwei Seiten der gleichen Medaille, wobei die technische mit all ihren Konsequenzen in Medien und Gesellschaft weniger präsent ist: Oft erscheint die technische Seite der Physik hauptsächlich als zukünftige Möglichkeit, nicht als gegenwärtige Realität. Damit ist die Physik weniger von direkten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um neue Technologien betroffen als die Technikwissenschaften. Während naturwissenschaftliches Weltwissen große Anerkennung genießt, ist die Akzeptanz von Technik in der modernen Gesellschaft nicht umstandslos gegeben. Zwar lässt sich die verbreitete Rede von einer generellen Technikskepsis oder sogar -feindlichkeit in Deutschland empirisch nicht erhärten. Dennoch ist die Haltung kritischer geworden als etwa in den Wirtschaftswunderjahren mit den Verheißungen des Atomzeitalters oder der damaligen Euphorie um Kunststoffe.

Dos and Don’ts der Risikokommunikation

Einer der härtesten Gesellschaftskonflikte der bundesdeutschen Geschichte war in dieser Hinsicht der Streit um die Kern­ener­gie. Auf der einen Seite standen Entscheider:innen aus der Politik und später auch aus der Wirtschaft, unterstützt durch die Natur- und Ingenieurwissenschaften. Auf der anderen Seite befanden sich die Betroffenen – zunächst oft Anwohner:innen an den realisierten oder geplanten Nuklearstandorten wie Wyhl, Kalkar, Gorleben oder Wackersdorf, dann aber auch beträchtliche und wachsende Teile der deutschen Bevölkerung. Dieser Konflikt hat zu Verletzungen und Verhärtungen geführt, die teils bis heute wirken und die Frage aufwerfen, welche Lehren sich daraus ziehen lassen.

Es ist sicher nicht falsch, in der frühen Kernenergiedebatte auch Kurzsichtigkeit und Technikgläubigkeit der Nuklearexpert:innen, damals fast sämtlich Befürworter:innen, festzustellen. Kritiker:innen wurden oft als irrational, vorgestrig oder unwissend dargestellt. Auf diese Weise ging Vertrauen verloren. Man kann aus der Risikodebatte zur Kernenergie lernen, wie wichtig Vertrauen zu Institutionen und Personen ist, und wie zentral dafür wiederum eine offene Kommunikation ist.

Dass eine offene Kommunikation gelingen kann, hat die Nanotechnologiedebatte vor etwa 20 Jahren gezeigt, an der Physiker:innen ebenfalls maßgeblich beteiligt waren. Es gab Befürchtungen, ihr könne ein ähnliches Desaster in Bezug auf die öffentliche Akzeptanz drohen wie der Kernenergie. Dass dies nicht eintrat, lag zumindest teilweise an einer offenen und partizipativen Risikokommunikation. Hier wurden, anders als in der frühen Kernenergiedebatte, Kritiker:innen nicht pauschal als „uninformiert“ angesehen, sondern es wurde offen über mögliche Risiken und Verantwortung diskutiert. Das schaffte Vertrauen. Man könnte paradox formulieren: Weil alle Seiten offen über Nichtwissen und mögliche Risiken diskutierten, blieb die Debatte konstruktiv.

Chancen durch Technikfolgenabschätzung

Unsere heutige Technik bestimmt die Zukunft der nachfolgenden Generationen, für deren Lebensqualität wir verantwortlich sind.

Beide Beispiele zeigen, dass moderne Gesellschaften den technischen Fortschritt hinterfragen, z. B. nach nicht intendierten Folgen, nach Nachhaltigkeit und nach möglichen Gewinnern und Verlierern. Eine vorausschauende Analyse und die Bewertung von Technikfolgen sind unerlässlich, um Chancen frühzeitig erkennen und Risiken vermeiden oder minimieren zu können. Eine wissenschaftliche Disziplin – die Technikfolgenabschätzung (TA) – erforscht daher Technikfolgen prospektiv. Sie erarbeitet Strategien zum verantwortlichen Umgang mit den oft auftretenden Ambivalenzen und Unsicherheiten und bringt dieses Wissen in Entscheidungsprozesse ein, z. B. im Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) oder in der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech). Das TAB beispielsweise erstellt auf wissenschaftlicher Grundlage orientierende Studien für das Parlament, darunter immer wieder auch mit engem Bezug zur Physik, etwa in den Feldern Energiewende, Digitalisierung und Rüstung.

Die TA ist in sich interdisziplinär und umfasst sowohl Natur- und Technikwissenschaften als auch Sozialwissenschaften und Ethik. Am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) beispielsweise sind drei der vier Personen in der Institutsleitung Physiker:innen. Oft haben TA-Forschende eine zweite universitäre Ausbildung in einer Sozial- oder Geisteswissenschaft, teils haben sie sich das erforderliche Wissen in der Praxis angeeignet. Aktuelle Felder der TA, in denen Kompetenz aus der Physik besonders gefragt ist, sind vor allem die Quantentechnologien, insbesondere das Quantencomputing, das weiterhin umstrittene Climate Engineering als technischer Eingriff in das Klimasystem und die Kernfusion als mögliche Energieoption, aber auch interdisziplinär entstandene Schnittstellenbereiche wie Biophysik und Medizinphysik mit den jeweiligen technologischen Entwicklungen.

Technikfolgen sind nicht einfach Folgen der Technik, sondern Folgen ihrer Nutzung in der Wirtschaft, im Konsum, in der Mobilität etc. – also Ergebnis menschlichen Handelns in Verbindung mit Technik und Wissenschaft. Methodische Sorgfalt ist entscheidend, um in den vielfachen Gemengelagen interdisziplinärer Wissensbestände, die dazu noch auf die Zukunft bezogen werden, Nachvollziehbarkeit und erkenntnistheoretische Transparenz zu sichern.

Dies betrifft insbesondere die Kommunikation mit und die Einbeziehung von gesellschaftlichen Akteur:innen. Hier gilt es zum einen, Wirtschaft, Behörden und zivilgesellschaftliche Gruppen, national wie international, einzubeziehen. Zum anderen kommt die TA den seit den 1980er-Jahren gestiegenen Mitwirkungsansprüchen der Bevölkerung durch partizipative Verfahren und Bürgerbeteiligung nach. Diese beziehen sich häufig auf Standortfragen, so etwa in Bezug auf die Endlagerung hoch radioaktiver Abfälle oder zum Verlauf von Hochspannungstrassen. Andere stellen neue Technologien wie z. B. soziale Roboter oder autonomes Fahren in sogenannten Reallaboren in gesellschaftliche Zusammenhänge, um neue Kooperationsformen von Mensch und Technik zu erproben. Die Beteiligung von Personen und Gruppen außerhalb von Wissenschaft und Politik soll die sachliche und politische Legitimation von Technikentscheidungen verbessern, aber auch das lokale Wissen zivilgesellschaftlicher Gruppen und ihre Perspektiven in die Bewertung einbringen.

Dies führt zunächst vom Kerngeschäft der Physik weit weg. Andere Elemente der TA wie komplexe Modellierungen, Simulationen oder systemanalytisch fundierte Szenarien oder Fallstudien liegen ihr sicher näher. Wichtiger in der TA ist vermutlich die Fähigkeit, komplex zu denken, Komplexität zu reduzieren und Problemlösungen zu erarbeiten. Wenn sich also TA zwar nicht als Physik betreiben lässt, ist die Kompetenz von Physiker:innen hier sehr hilfreich. Und umgekehrt ist es für Physiker:innen wichtig, bei ihrer Arbeit beide Seiten derselben Medaille – Physik und Technik – im Auge zu behalten. Die TA sollte deshalb auch Bestandteil der Lehre sein.

Armin Grunwald