MENSCHEN
Kultur und Geschichte

Grundlagenforschung als Kulturleistung

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1959 prägte der britische Wissenschaftler und Schriftsteller C. P. Snow den Begriff von den „Zwei Kulturen“: Er hat damit die große Stille beschrieben, den großen Bruch, das gegenseitige Unverständnis zwischen den Bereichen Kunst, Literatur und Geisteswissenschaften auf der einen Seite und Technik und Naturwissenschaften auf der anderen Seite. Damals wie heute kokettieren so manche Akteur:innen mit ihrer mehr oder weniger vollkommenen Unkenntnis von Technik, Physik oder gar Mathematik.

„Die natur­wissen­schaft­liche Grund­lagen­for­schung ist eine der größten und erfolg­reichsten Kultur­­leis­tun­­­­­­gen der Menschheit.“

Diese scheinbare Ignoranz überrascht angesichts der Bedeutung natur­wissen­schaft­li­cher und technischer Inhalte für den Fortbestand unserer Art zu leben, für die Stabilität unserer Gesellschaft und sogar die Existenz von Einzelnen beim Thema Gesundheit. Für eine Gesellschaft, die von technischen Entwicklungen geprägt ist und von diesen lebt, spielen die Kenntnis von Risiken und Chancen naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse in ihrer technischen Ausformung eine kardinale Schlüsselrolle. Die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung ist eine der größten und erfolgreichsten Kulturleistungen der Menschheit. Sie hat unsere finanzielle, ideelle und kommunikative Unterstützung in möglichst breiter Front verdient.

Eine Brücke über den Abgrund

Natürlich gehört Grundlagenforschung zum kulturellen Grundbestand unserer Gesellschaftsform, die sich durch die Verwendung von technischen Konstrukten und Artefakten aller Art auszeichnet. Weder die moderne Wirtschaftsform, noch ein demokratisch verfasster Rechtsstaat mit jeweils Millionen Akteur:innen wäre möglich ohne technisch hergestellte Prozess- und Netzstrukturen, die die Mobilität, die Kommunikation und die Versorgung mit allen möglichen Gütern kontinuierlich über Raum und Zeit, rund um die Uhr gewährleisten. Und dies gilt längst nicht mehr nur für die industrialisierten Länder, sondern es gilt für den gesamten Globus mit seinen Vernetzungen in Rohstoffen, Verkehr, Waren, Informationen und Menschen. Nicht umsonst sprechen wir längst vom Anthropozän (Seite 118), dem Erdzeitalter, das durch den Menschen geprägt ist. In seiner Erforschung wird die Natur als Gegenstand und Kulisse ebenso betrachtet wie ihre Wechselwirkung mit der Sphäre des Menschen in all seinen Ausformungen. Hier entsteht also endlich eine Brücke über den Abgrund zwischen den beiden Welten Snows. Endlich können Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften miteinander reden, wenn sie gemeinsam daran forschen, was der Mensch mit der Natur macht, aber auch wie die Natur auf diese Veränderungen reagiert. Endlich werden Kultur und Natur nicht nur gegenübergestellt, sondern zusammen gedacht und zusammen erforscht. Die Grundlage für diesen Dialog ist die Inventur der Natur, also die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung.

Grundlagen des Weltverständnisses

Den Grundlagen der physikalischen Welt in Kosmos und Materie sowie in Raum und Zeit kommen dabei besondere Bedeutung zu. Grundlagenforschung in der Teilchenphysik einerseits und in der Astrophysik und Kosmologie andererseits sichert unser Bild und unsere Kenntnisse von Natur nach oben (Kosmos) und unten (elementare Bausteine der Materie) ab. Diese Disziplinen liefern über durch Experimente und Beobachtungen bestätigte Theorien das immer stabilere Fundament für jede Art von technischer Anwendung innerhalb der irdischen Wirklichkeit.

Mithilfe einer sehr strengen quantitativen Analyse der Bausteine und Wechselwirkungen der Materie untereinander sowie mit elektromagnetischer Strahlung aller Art, setzen wir uns mit der Natur auseinander. Dies bildet das zentrale Gerüst des modernen Lebens. Ohne die möglichst genaue Kenntnis des Aufbaus der Materie wäre weder moderne Medikamentenforschung noch die Erzeugung von lichtempfindlichen Oberflächen möglich, die wir für die technische Nutzung des Sonnenlichts brauchen. Die enorme Präzision der Ergebnisse und daraus abgeleiteten Erkenntnisse ergibt sich durch das Rütteln an den Grenzen des Möglichen, also durch die experimentelle Annäherung an möglichst extreme Zustände der Materie. Grundlagenforschung überdehnt die Anwendungs- und Wirklichkeitsbereiche in Dimensionen, die auf der Erde praktisch nie existieren. Dann zeigt sich die Zuverlässigkeit der zunächst auf Basis qualifizierter Vermutungen erfundenen und dann im Experiment bestätigten mathematischen Zusammenhänge, die wir Naturgesetze nennen.

Folgendes Beispiel verdeutlicht die außerordentlich hohe Kunst des Messens, Wiegens und Zählens in der Synthese der Physik des Allergrößten mit der Physik des Allerkleinsten. Dabei geht es nur um reine Erkenntnis, nicht um Anwendungen. Es geht um die Entdeckung der Gravitationswellen, sich ausbreitende Schwingungen der Raumzeit. Die Raumzeit ist die Kombination von Raum und Zeit, in der sich, zumindest mathematisch, Wirkungen ausbreiten können. Schwarze Löcher sind Objekte mit so kompakter Masse, dass von ihnen keine elektromagnetische Strahlung entweicht. Die Astrophysik konnte zeigen, dass solche Ob­jek­te am Ende des Lebens von Ster­nen entstehen, die sehr viel schwerer als die Sonne sind. Die Wirkungen würden sich als Gravitationswellen manifestieren, die Ursachen wären theoretisch große Massenveränderungen, etwa Schwarze Löcher, die miteinander verschmelzen können und dabei die Raumzeit in Schwingungen versetzen, so wie es Einsteins allgemeine Relativitätstheorie vorhersagt.

Am 14. September 2015 registrierten zwei kilometerlange Laser-Interferometer-Detektoren (LIGO) an unterschiedlichen Standorten in den USA nahezu zeitgleich, dass die Länge ihrer Messstrecke sich für 0,2 Sekunden verändert hatte. Die Zeitverschiebung beider Messungen von sieben Millisekunden entsprach exakt der Zeit, die Licht (und Schwerkraft) vom einen zum anderen Detektor (2100 Kilometer Abstand) benötigen würde. Das Signal, das die beiden Detektoren erfasst hatten, wurde von Gravitationswellen verursacht, die durch die Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher entstanden waren. Wie sich herausstellte, war die Quelle und damit die Ursache der Wellen rund 1,3 Milliarden Lichtjahre entfernt – also rund 1025 Meter. Die Längenänderung, die LIGO registrierte, war ein Tausendstel Protonenradius, also 10−18 Meter. Wir können in der Physik somit über 43 Größenordnungen in der Länge absolut präzise Messungen durchführen. Das Besondere an diesem Beispiel ist außerdem das Wechselspiel der Quantenmechanik in ihrer technischen Ausformung, dem Laser, und der Gravitation in ihrer Wellenstruktur. Beide, Quantenmechanik und Gravitation, sind nicht abhängig voneinander. Die Schwerkraft hängt nur von den Massen und ihrem Abstand ab, der Laser vom Material, das strahlt. Somit hat man im „Gerichtshof der Naturgesetze“ – so hat der Philosoph Immanuel Kant die Natur bezeichnet – zwei unabhängige Gutachter, die zum gleichen Ergebnis kommen.

Künstlerische Darstellung der Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher, die zu Gravitationswellen führt.

Die Bedingungen unserer Existenz

Aber die Grundlagenforschung liefert uns noch viel allgemeinere Erkenntnisse von den Grenzen des physikalisch überhaupt Möglichen. Dazu gehören insbesondere die berühmten Sätze der Thermodynamik, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert und seitdem mit besonders ausgeklügelten experimentellen Verfahren immer wieder bestätigt wurden: Erstens kann Energie weder erzeugt noch vernichtet, sondern nur verwandelt werden. Und zweitens ist jeder Prozess mit der Entwertung von Energie verbunden, weil unvermeidlich Wärmeverluste auftreten. Das alles sind fundamentale Aussagen über jeden Prozess im Universum.

Grundlagenforschung liefert somit als Kulturleistung die Vorbedingungen für das, was wir tun können – aber auch für das, was wir tun sollen. Das Sollen besteht aus dem Erhalt und der Verbesserung der Lebensbedingungen aller Geschöpfe auf unserem Planeten. Er ist die einzige Heimstatt, die wir Menschen haben. Das ist angesichts der Entfernungen im Universum zunächst einmal eine quantitative und damit wertfreie Aussage, die allerdings offensichtlich normative Konsequenzen hat, wenn man das Überleben der Menschheit als erstrebenswert erachtet. Kultur ist das, was der Mensch hervorbringt, Natur ist das, was von allein passiert. Die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung ist eine der größten und erfolgreichsten Kulturleistungen der Menschheit. Wir sollten sie unbedingt nutzen.

Harald Lesch