Von Aristoteles über Ptolemäus bis auch noch zur Zeit von Nikolaus Kopernikus galt es als selbstverständlich, dass Bewegungen am Himmel auf Kreisen verlaufen. Denn Kreise sind eine „ideale“ und damit göttliche sowie eine allgemein verständliche Geometrie. Mit der Erkenntnis, dass die Planetenbahnen tatsächlich aber auf Ellipsen verlaufen, stellte Johannes Kepler die Erfahrung über den Glauben. Kepler hatte seine Gesetze anhand der Messungen von Tycho Brahe gefunden und nebenbei auch die Notwendigkeit von höherer Mathematik für das Verständnis der Natur aufgedeckt (Ellipsen sind Kegelschnitte und damit Teil der analytischen Geometrie). Isaac Newton ging weit über die Planetenbewegung hinaus, als er erkannte, dass alle Bahnen von Objekten, auch irdischen, ein und demselben Kraftgesetz folgen. Das bedeutet, dass ausschließlich die jeweilige momentan wirkende Kraft darüber entscheidet, wie ein Körper in diesem Moment abgelenkt wird. Dass sich bei den Planeten aus diesen vielen kleinen momentanen Änderungen im Prinzip geschlossene elliptische Bahnen ergeben, ist ein glücklicher Spezialfall.
Zur besseren Handhabe des Aufsummierens von vielen kleinen Änderungen entwickelten Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz die Infinitesimalrechnung, ohne die die gesamte moderne Physik undenkbar ist. Jede zeitliche Veränderung ist Lösung einer Differenzialgleichung. Wir sagen heute in vielen Bereichen der Physik, dass wir Phänomene verstanden haben, wenn wir dazu passende spezifische Differenzialgleichungen aufstellen können.
Eine Ursache, der Rest ist Mathe
Die Infinitesimalrechnung war ein entscheidender Schritt: Anstatt alle denkbaren Verläufe aufzulisten oder empirische Messreihen durch immer raffiniertere Funktionen anzupassen, geben wir nur noch die Ursache aller möglichen Verläufe an – der Rest ist Mathe! Das heißt, es gibt ein für alle erlernbares Instrumentarium, um aus der Ursache (z. B. dem Kraftgesetz) die Gesamtheit aller möglichen Auswirkungen zu berechnen, die jetzt in jedem Einzelfall nur noch von den jeweils vorliegenden Anfangsbedingungen abhängen.
Dabei stellte sich im 18. und 19. Jahrhundert heraus, dass es in allen Bereichen der Physik wiederkehrende Gesetzmäßigkeiten gibt, die zwar jeweils ganz verschiedene Sachverhalte betreffen, aber durch dieselbe Mathematik zum Ausdruck gebracht werden. Ein wichtiges Beispiel sind Erhaltungssätze: Viele kontinuierlich verteilte Entitäten können zwar räumlich umverteilt, aber nicht erzeugt oder vernichtet werden, wie die Anzahl von Molekülen in der Hydrodynamik, Ladungen in der Elektrodynamik, Energie und Impuls in allen Kontinuumssystemen, aber auch abstraktere Größen in modernen Feldtheorien. All diese Erhaltungssätze werden durch dieselbe Kontinuitätsgleichung zum Ausdruck gebracht. Später hat die Mathematikerin Emmy Noether einen bahnbrechenden Perspektivwechsel beigetragen, indem sie erkannt hat, dass eine Kontinuitätsgleichung immer eine Konsequenz von Symmetrien ist.
Die Kontinuitätsgleichung bewirkte einen entscheidenden Durchbruch in der Elektrodynamik: Durch Laborexperimente hatte man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Reihe von universellen Gesetzmäßigkeiten für elektrische und magnetische Felder gefunden, die mit den Namen Coulomb, Ampère, Ørstedt, Faraday und Gauß verknüpft sind. James Clerk Maxwell erkannte, dass diese Gleichungen einen kleinen Schönheitsfehler hatten: Jede für sich war empirisch vielfach bestätigt, aber zusammengenommen standen sie im Widerspruch zu der Kontinuitätsgleichung für die elektrische Ladung! Sie würden also zulassen, dass elektrische Ladungen aus dem Nichts entstehen. Maxwell konnte die Gleichungen retten, indem er in einer von ihnen einen Zusatzterm einfügte, der in allen Laborexperimenten seiner Zeit extrem klein war. Mit dieser Ergänzung sind diese Differenzialgleichungen heute unter dem Namen „Maxwell-Gleichungen“ bekannt.
Der kleine Zusatzterm hatte eine dramatische Konsequenz: Die vervollständigten Maxwell-Gleichungen besitzen mathematische Lösungen, die sich als Wellen verstehen lassen. Nicht nur war damit die mathematische Erklärung für das Phänomen Licht gefunden – man wusste jetzt auch, wie man elektromagnetische Wellen selbst erzeugen konnte (Heinrich Hertz). Die Folge war die Entwicklung der drahtlosen Telegrafie (Guglielmo Marconi) und damit auch von Radio, Laser, Mobilfunk, WLAN und Satellitennavigation. Das war möglich, weil der Zusatzterm bei hohen Frequenzen sehr groß wird. Gefunden wurde er aber nicht im Labor, sondern durch die Kraft der Mathematik und ihrer Forderung nach innerer Widerspruchsfreiheit der Physik.
Mathematik und die moderne Physik
Ein anderes Beispiel für die innovative Kraft der Mathematik ist die Entstehung der Quantenmechanik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ausgangspunkt waren viele unverständliche Messdaten aus der relativ jungen Atomphysik, insbesondere die Tatsache, dass gewisse Größen – etwa die Lichtenergie – sich nicht kontinuierlich, sondern „gequantelt“ verhielten. Werner Heisenberg, geschult im abstrakten Denken der Mathematik der analytischen Mechanik, erkannte in den Quantelungen ein Muster, das er seinem Doktorvater Max Born vorlegte. Dieser kannte mehr Mathematik als damals für die Physik gelehrt wurde, und identifizierte in Heisenbergs Muster eine Matrizenalgebra. Nur wenig später erklärte Erwin Schrödinger dieselben rätselhaften Quantelungen durch ein aus der Mathematik der Differenzialgleichungen mit Randbedingungen bekanntes Phänomen und stellte die Wellenmechanik auf. In dem folgenden Jahrzehnt überschlugen sich die Durchbrüche, nicht zuletzt dank der Erkenntnis, dass „Matrizenmechanik“ und „Wellenmechanik“ in einem mathematischen Sinne äquivalent sind. Man hatte also sogar gleich zwei Methoden mit unterschiedlichen Vorteilen, um von nun an quantenmechanische Phänomene zu erklären und vorherzusagen.
Erkenntnistheoretisch gesprochen trennten sich an dieser Stelle Ontologie („Was ist die Realität?“) und Epistemologie („Wie verstehen und beschreiben wir die Realität?“): Wir arbeiten mit mathematischen Konstrukten (wie der Wellenfunktion, Seite 24), die wir nicht direkt messen können, deren Berechnung aber alle Messergebnisse erklärt und vorhersagt. Diese Denkweise – auch in anderen Gebieten der Physik – ermöglicht abstrakte Erklärungsmuster, die nicht eins zu eins direkt den Beobachtungen in Experimenten entsprechen müssen. Die dadurch gewonnene Flexibilität prägt die Theoretische Physik bis heute.
Die allgemeine Relativitätstheorie (Gravitation und Kosmologie, Satellitentechnologie und -navigation), die Elementarteilchenphysik (schwache und starke Wechselwirkungen) und die quantenstatistische Mechanik (Phasenübergänge in der Festkörper- und Materialphysik) sind Früchte des mathematischen Zugangs. Ohne auf Einzelphänomene fixiert zu sein, hat er universelle Gesetzmäßigkeiten im Auge, die sich in jedem Einzelfall anders präsentieren, denen aber dieselbe Mathematik zugrunde liegt. Gruppentheorie, Differenzialgeometrie und Methoden der Stochastik lassen sich in vielen Bereichen der Physik erfolgreich anwenden.
In der heutigen Zeit ist es selbstverständlich, dass der reinen mathematischen Methode komplementär die computergestützte Numerik zur Seite steht. Während die meisten Probleme der modernen Physik sich nicht mehr exakt behandeln lassen, kann sie Näherungslösungen bereitstellen. Sie erlaubt uns, mit ungeahnter Flexibilität komplexe Systeme zu modellieren und zu simulieren (Wetter und Klima, Finanzmärkte und Pandemien, Festkörper und Energiekonversion, Satellitenbahnen und Schwarze Löcher) und technisch verwertbare Lösungen zu optimieren. Die Entwicklung und das Verständnis der zuverlässigen Funktionsweise der dazu nötigen Algorithmen ist selbst wieder ein eigener Zweig der Mathematik.
Die Mathematik der Zukunft
Trotz der unschätzbaren Unterstützung durch numerische Verfahren dürfte die Methode der „reinen“ Mathematik auch in Zukunft unverzichtbar bleiben. Sie erlaubt uns, durch konzeptionelles Denken Grenzen auszutesten, zu erweitern und aufzulösen. Moderne Forschung arbeitet auf Gebieten, in denen qualitative Durchbrüche wohl nur mit bisher unbekannter Mathematik zu erwarten sind. Es zeichnet sich ab, dass die so erfolgreiche mathematische Physik des 20. Jahrhunderts an ihre Grenzen stoßen wird. Emergente Phänomene in komplexen Systemen fernab vom Gleichgewicht, also zum Beispiel in lebender und aktiver Materie, können wir zwar immer besser beschreiben und modellieren, aber von einem paradigmatischen Verständnis der zugrunde liegenden Gesetze sind wir weit entfernt. Konnte man die Quantenverschränkung als Gedankenexperiment noch mit 2x2-Matrizen verstehen, so sind diese für die fortschreitenden Weiterentwicklungen in den Bereich technologischer Anwendungen – von der Vielteilchen-Quantenmechanik angeregter Zustände von Festkörpern bis zu Kryptografie und Quantencomputing – nicht mehr adäquat. Die mathematische Struktur der Quantengravitation ist sogar noch völlig offen.
Innerhalb der Mathematik ist „alles denkbar“, weil es nicht ihre Aufgabe ist, die Natur abzubilden, sondern selbstgeschaffene logische Systeme zu entwickeln – in sehr vielen Fällen sind diese natürlich durchaus durch die physische Realität motiviert. Bei der Suche nach den unbekannten Gesetzen der Physik der Zukunft muss die Mathematik aber immer physikalischen Prinzipien verpflichtet sein, wobei die spezifische Art der Umsetzung der Prinzipien offen ist. Wenn sie diese aus den Augen verliert, verliert sie sich in spekulativen Welten.
Werden also ganz neue Zweige der Mathematik Durchbrüche in der Physik ermöglichen – „Tensornetzwerke“, „Kategorien“, „nicht-kommutative Geometrie“ oder „Komplexitätstheorie“, oder solche, die noch gar keinen Namen haben? Der Erfolg der vergangenen hundert Jahre lässt uns große Hoffnungen in die mathematische Methode für qualitative Erkenntnissprünge auch in den nächsten hundert Jahren setzen. Wie die Beispiele aus der Vergangenheit zeigen, müssen wir bereit sein, nicht nur viel Mathematik zu lernen und zu lehren, sondern auch die Mathematik selbst weiterzuentwickeln, um damit die harten Nüsse der Physik zu knacken.
In der Physikausbildung wird die Mathematik oft als große Hürde empfunden, die den Einstieg ins Studium der Physik erschwert. In fortschreitenden Semestern erfahren die Studierenden im Theoriekurs, dass Mathematik nicht nur ein (oft mühsam zu bedienendes) dienendes Werkzeug, sondern ein aktives Verfahren ist, um die Erfahrung der Welt zu ordnen und die Grenzen der Erkenntnis zu erweitern. Es gibt erfreulicherweise immer wieder Studierende, die sich von dieser Erfahrung begeistern lassen. Diese werden ihren Teil zum zukünftigen Verständnis der Physik beitragen.