WISSEN
Grenzen überwinden

Mit Präzisionsmessungen auf der Suche nach neuer Physik

Bisher lassen sich alle Experimente mittels der heutigen Kenntnisse über die Physik genau vorhersagen oder beschreiben. Die Suche nach neuer Physik geht jedoch weiter. Diese Suche erfordert extrem genaue Messungen, um neue Effekte sichtbar werden zu lassen.

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Das Weltbild der Physik basiert auf der Überzeugung, dass allen Naturphänomenen allgemeingültige Regeln – die Naturgesetze – zugrunde liegen. Dabei gab es im Laufe der Geschichte allerdings manche Überraschungen – die im 20. Jahrhundert etwa zur Formulierung der Quantenmechanik und der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie führten. Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel ist die Paritätssymmetrie. Sie besagt, dass sich ein physikalisches System nach einer räumlichen Spiegelung immer noch genauso verhält wie vorher. Nach derzeitigem Wissen gilt diese Symmetrie für die Schwerkraft und die starke und elektromagnetische Wechselwirkung. Von der schwachen Wechselwirkung wird sie aber verletzt. Das zeigte sich erstmalig im Jahre 1956 in dem von Chien-Shiung Wu nach ihr benannten beeindruckenden und eleganten Wu-Experiment. Für viele Theoretiker:innen war diese Entdeckung ein Schock, fiel es doch schwer zu glauben, dass es tatsächlich einen intrinsischen Unterschied zwischen links und rechts geben sollte.

Kurzzeitig fanden manche Trost in der Idee, dass sich die Symmetrie wiederherstellen lässt, wenn man die räumliche Spiegelung (P) mit der Ladungskonjugation (C) kombiniert – also die Teilchen durch ihre Antiteilchen ersetzt (CP-Symmetrie). Das schien zunächst eine gute Idee zu sein – bis auch diese 1964 durch Experimente widerlegt wurde.

Solcherlei unerwartete Beobachtungen treiben die Physik vor sich her und werfen immer wieder große Fragen auf. Es ist daher bedeutsam, grundlegende Gesetze mit immer höherer Präzision und Empfindlichkeit zu erforschen. Einerseits verfestigen solche Tests unser objektives Wissen über die Natur. Andererseits bieten sie die Möglichkeit, nach „neuer Physik“ zu suchen, die uns vielleicht dazu zwingt, unsere Annahmen zu überdenken.

Es gibt zwei grundsätzliche Ansätze für solche Tests. Erstens gehen wir, bildlich gesprochen, an Orte, an denen wir noch nie waren. Das kann bedeuten, das Universum mit radikal neuen Instrumenten wie Gravitationswellendetektoren zu beobachten oder Teilchenbeschleuniger mit immer höherer Energie zu bauen. Tatsächlich waren über viele Jahre Experimente mit immer größeren Beschleunigern eine ergiebige Quelle für neue Erkenntnisse über die Grundlagen der Physik. Zu einigen Fragen, etwa zu den Symmetriebrechungen, konnten sie aber bisher keine Antworten liefern. Möglicherweise sind die benötigten Energien, um diese Effekte zu erzeugen und messbar zu machen, praktisch nicht erreichbar.

Beim zweiten Ansatz bleiben wir in den Grenzen kleiner Labore. Photonen sowie einzelne geladene Teilchen, Atome und Moleküle sind sehr gut geeignete Testobjekte. Der innere Aufbau letzterer aus fundamentalen Teilchen kann mit relativ einfachen Prinzipien mit sehr hoher Genauigkeit theoretisch beschrieben werden. Viele ihrer Eigenschaften können extrem präzise gemessen werden – was nicht nur das Potenzial birgt, „neue Physik“ in Abweichungen zwischen Vorhersage und Messung zu entdecken, sondern auch zu einigen wichtigen Anwendungen führt.

Experimente an Großforschungsgeräten

Inspiriert durch die auf kosmologischen Skalen beobachtete Materie-/Antimaterie-Assymmetrie, vergleichen Experimente mit präzisionsphysikalischen Techniken die fundamentalen Eigenschaften von Protonen und Antiprotonen oder von Wasserstoff und Antiwasserstoff. Das Antimaterieprogramm am Forschungszentrum CERN machte in den vergangenen Jahren signifikante Fortschritte: Beispielsweise wurden von der BASE-Kollaboration die magnetischen Momente von Protonen und Antiprotonen mit einer relativen Präzision von eins zu einer Milliarde verglichen und mit dieser Genauigkeit für gleich befunden – mehr als 3000-mal genauer als der beste vorhergehende Test. Auch die Verhältnisse von Ladung zu Masse bei Protonen und Antiprotonen ließen sich mit billiardstel Präzision vergleichen, was den präzisesten Test der Materie/Antimaterie-Symmetrie im Baryon-Sektor darstellt.

Die ALPHA-Kollaboration am CERN verwirklichte außerdem die erste Messung des freien Falls von Antiwasserstoff im Gravitationsfeld der Erde. Die gemessene Erdbeschleunigung ergibt, dass sich innerhalb der Messunsicherheit Materie und Antimaterie unter Gravitation identisch verhalten, entsprechend den Voraussagen der allgemeinen Relativitätstheorie. Alles andere hätte tiefgreifende Konsequenzen für unser Verständnis von Raum und Zeit – gerade deshalb muss dieses Resultat aber weiteren Präzisionsmessungen standhalten.

Eine weitere Klasse von Experimenten mit höchster Empfindlichkeit für neue Physik besteht in Messungen elektrischer Dipolmomente (EDM) von Elementarteilchen. Beispielsweise wurden einige Szenarien der Supersymmetrie bereits vor dem Start des LHC durch präzise Messungen des EDM des Neutrons ausgeschlossen. Beim EDM des Elektrons wurden durch Messungen mit polaren Molekülen deutliche Verbesserungen der Empfindlichkeit erreicht. Aus diesen Messungen wird neue Physik durch bisher unbekannte Austauschquanten im gleichen Massenbereich ausgeschlossen, den auch der LHC am CERN testet.

Leptonen – die unteilbaren Elementarquanten des Standardmodells (SM, Seite 35) – sind besonders empfindliche Testobjekte zur Überprüfung des SM oder zur Suche nach neuer Physik. Beispielsweise besteht in der Messung des magnetischen Moments des Elektrons Übereinstimmung mit theoretischen Voraussagen auf dem Niveau von eins zu zehn Billiarden. Hier existieren allerdings Inkonsistenzen mit unabhängigen Messungen der Feinstrukturkonstante. Interessanterweise zeigt die Messung des magnetischen Moments eines anderen Leptons, des Muons, eine Abweichung von den Voraussagen des SM mit hoher statistischer Signifikanz. Ob es sich hier jedoch um grundsätzlich neue Phänomene handelt oder ob es einer Korrektur der theoretischen Voraussagen bedarf, wird derzeit in Fachkreisen intensiv debattiert.

Viele der genannten Messungen lassen sich durch neue messtechnische Entwicklungen weiter verbessern. Hier spielt insbesondere die Quantenlogik eine Rolle. Dazu werden Ionen an besonders präparierte Quantensysteme gekoppelt und spektroskopiert. Ihre Spektren sind sehr genau zu vermessen und könnten bei geeigneter Wahl der Quantensysteme Abweichungen vom SM zeigen. Dies könnte z. B. CPT-Tests (T für Zeit, engl. time) zum Elektron/Positron-Proton/Antiproton-Massenverhältnis mit relativen Unsicherheiten im 10−17-Bereich ermöglichen, die komplementär zu bisher durchgeführten Messungen sind.

Die genauesten Uhren der Welt

Bei welchen Wellenlängen Atome oder Moleküle Licht absorbieren oder aussenden, verrät viel über die innere Struktur dieser Teilchen und die auftretenden Wechselwirkungen. So veranlasste das Spektrum des Wasserstoffatoms Niels Bohr zur Entwicklung seines Atommodells. Willis Eugene Lamb und Robert C. Retherford entdeckten darin quantenphysikalische Feinheiten der Energiestruktur, die zur Entwicklung und zu hochgenauen Tests der Quantenelektrodynamik führten. Neben den tiefen Einblicken in die Struktur der Atome und den daraus abgeleiteten Erkenntnissen erlaubt diese Präzisionsspektroskopie auch, genaue Atomuhren zu bauen.

Schema einer optischen Atomuhr: Ein schmalbandiger Laser wird benutzt, um ein möglichst ungestörtes quantenmechanisches 2-Niveau-System (in einem Atom, Molekül oder im Atomkern) resonant anzuregen. Das Ergebnis des Anregungsversuchs wird von einem Zustandsnachweis erfasst und als Signal zur Stabilisierung der Laserfrequenz auf die Resonanz benutzt. Für Frequenzmessungen oder zur Realisierung einer Zeitanzeige wird ein optisches Uhrwerk in Form eines Femtosekundenlaser-Frequenzkamms genutzt, um die Laserfrequenz in den direkt elektronisch zählbaren Bereich von Mikrowellen herunterzuteilen.

Dabei wird ein elektromagnetisches Feld erzeugt, das bei einer bestimmten Resonanzfrequenz ein Elektron des Atoms auf ein höheres Energieniveau anregt. Da der Abstand zwischen den beiden Energiezuständen durch die Quantenphysik festgelegt ist, dient die Resonanzfrequenz als zuverlässiger, auf Naturkonstanten beruhender Bezugspunkt: eine Schwingung, von der man ganz genau weiß, wie viel Mal pro Sekunde sie auftritt. Umgekehrt bedeutet das: Ist eine genau bekannte Anzahl an Schwingungen erfolgt, so ist eine Sekunde verstrichen. Dieses Konzept einer Atomuhr funktioniert so präzise und reproduzierbar, dass die Basiseinheit Sekunde genau so aus dem 9,2-GHz-Mikrowellenübergang des Cä­si­um­atoms abgeleitet wird.

Atomuhren sind immer genauer geworden. Dabei galt es zum einen, den Doppler-Effekt, also Frequenzverschiebungen durch die Bewegung der Atome, zu unterdrücken. Ein entscheidender Durchbruch hierbei war die Entwicklung der Laserkühlung von Atomen, mit der sich deren Geschwindigkeit um Größenordnungen reduzieren lässt. Für lasergekühlte Atome lässt sich in modernen Cäsium-Atomuhren die Dopplerverschiebung auf ca. 10−16 der Übergangsfrequenz kontrollieren. Gleichzeitig können alle anderen Störungen der atomaren Niveaus des Referenzübergangs in diesen Atomuhren mit ähnlicher Genauigkeit kontrolliert werden.

Zweitens lässt sich die Genauigkeit von Atomuhren verbessern, indem man höhere Übergangsfrequenzen nutzt. Bei diesen „optischen Uhren“ werden anstelle von Mikrowellenübergängen durch einen Laser angeregte Übergänge im optischen Spektralbereich verwendet – beispielsweise in Strontiumatomen. Weil viele Störungen der Übergangsfrequenz unabhängig vom energetischen Abstand der verwendeten Niveaus sind, wird der relative Einfluss solcher Störungen also kleiner.

Test der Lorentz-Invarianz mit optischen Uhren. Das Experiment überprüft die Symmetrie des Raums gegenüber Drehungen. Zwei einzelne Yb+-Ionen, hier gelb gezeigt mit der ausgerichteten Wellenfunktion ihres angeregten Zustands, bestimmen die Frequenzen zweier Uhren und würden bei unterschiedlichen Frequenzen schwingen, wenn die Symmetrie gebrochen würde. Im Experiment rotiert das gesamte System mit der Erde relativ zu den Fixsternen. Diese Messungen mit Yb+ Ionen halten aktuell den Weltrekord und schließen eine Verletzung der Lorentz-Symmetrie mit einer Empfindlichkeit im Bereich von einigen 10−21 aus.

Bei Dopplerverschiebungen, die proportional zur Frequenz sind, hilft dieser Ansatz allerdings nicht. Um hier die Genauigkeit zu verbessern, müssen die Atome in Fallen gespeichert werden. So lassen sie sich in Ruhe vermessen und ein störender Einfluss ihrer Bewegung kann minimiert werden.

Als erster Fallentyp für optische Uhren wurden Fallen für einzelne Ionen verwirklicht (Physik-Nobelpreis 1989). Dabei wird das geladene Teilchen mithilfe elektrischer und magnetischer Felder festgehalten. Für neutrale Atome wurden später Fallen mithilfe von Lasergittern realisiert. Diese optischen Gitteruhren bieten derzeit die beste statistische Genauigkeit. Der kürzlich demonstrierte Ansatz der Multi-Ionen-Uhr bietet hier das Potenzial, auch die statistische Empfindlichkeit von Ionenuhren signifikant zu erhöhen und Synergien aus der Quanteninformation mit Ionen-Qubits zu nutzen.

Dank dieser sich ergänzenden Ansätze können optische Uhren mit sehr unterschiedlichen Elementen betrieben werden und erreichen relative Unsicherheiten im Bereich von 10−18. Sie eignen sich für verschiedene fundamentale Tests, etwa der für die Wechselwirkung zwischen Quantenteilchen wichtigen Feinstrukturkonstanten oder von Aussagen der Relativitätstheorie. Im Bereich der höchsten Genauigkeiten werden Atomuhren zu relativistischen Sensoren ihrer Umgebung: Ein relativer Frequenzunterschied von 1⋅10−18 wird hervorgerufen durch die relativistische Zeitdilation bei einer langsamen Fußgängergeschwindigkeit von 0,4 m/s oder durch eine Änderung der Höhe der Uhr um 1 cm im Gravitationspotenzial an der Erdoberfläche. Eine viel diskutierte Anwendung solch genauer Uhren ist daher die relativistische Geodäsie, die zur Verbesserung der Genauigkeit des terrestrischen Höhensystems beitragen könnte (siehe auch „Die Vermessung der Welt“ auf Seite 106).

Extra Low Energy Antiproton Synchrotron ELENA, an der Antimateriefabrik des CERN. Dieser Ring entschleunigt Antiprotonen von 5,6 MeV auf 100 keV und stellt die Teilchen Hochpräzisionsexperimenten zur Verfügung, welche Materie-Antimaterie-Symmetrie und das Äquivalenzprinzip mit Antimaterie testen.

Natürlich soll die Erfolgsgeschichte weitergehen. Beispielsweise lassen sich mehrere Uhren miteinander verschalten, um ihre positiven Eigenschaften zu kombinieren. Gleichzeitig untersucht man die Frage, ob sich quantenmechanische Rauschprozesse durch Verschränkung mehrerer Atome unterdrücken lassen. Ein weiterer attraktiver Ansatz liegt in der Entwicklung einer Atomuhr, die ihre Resonanzfrequenz nicht aus der Elektronenhülle, sondern aus dem Atomkern bezieht. Wegen der starken Bindung der Teilchen im Kern verspricht eine solche Uhr eine noch höhere Immunität gegen äußere Störungen und würde gleichzeitig den Bereich der beschriebenen fundamentalen Tests von der elektromagnetischen Wechselwirkung auf die Kernkräfte ausweiten.

Damit ist die Atomuhr ein gutes Beispiel dafür, wie sich Grundlagenforschung und angewandte Forschung gegenseitig beflügeln. So erfordert der Betrieb von Kommunikationsnetzwerken bei höheren Datenraten für mobile Empfänger (wie in 5G) auch eine bessere Synchronisation innerhalb des Netzwerks und damit eine hohe Zahl von möglichst robusten, langlebigen und preiswerten Atomuhren.

Die reine wissenschaftliche Neugier kann demnach ein starker Antrieb für erfolgreiche und innovative Forschung sein, auch wenn dieser Punkt von manchen politischen Entscheidungsträgern möglicherweise unterschätzt wird. Neben der Atomuhr erstrecken sich weitere Beispiele von der Quantensensorik über die Entwicklung des Internets bis hin zu sicheren Kommunikationsprotokollen, die aus der Arbeit an den Grundlagen der Quantenmechanik hervorgegangen sind.

Bei den Präzisionsmessungen für die Suche nach „neuer Physik“ handelt es sich immer um den Vorstoß in unbekanntes Gebiet, und der Erfolg solcher Experimente ist prinzipiell nicht vorhersagbar. Umso befriedigender ist es daher, dass mit der Verbesserung der Messgeräte oft auch ganz praktische Anwendungen mit Auswirkungen auf das tägliche Leben erschlossen werden können.

Von der Atomuhr zur Kernuhr

Die Frequenz einer genauen Uhr soll möglichst wenig von außen beeinflusst werden. In dieser Hinsicht eignet sich der Kern eines Atoms besser als seine Elektronenhülle, weil er viel kleiner ist und seine Bestandteile stärker aneinander gebunden sind. Lässt sich also eine Resonanzfrequenz eines Kerns als Taktgeber nutzen? Geeignet ist das Isotop Thorium-229, da es eine solche Resonanzfrequenz besitzt, die sich mit Laserlicht anregen lässt. Die meisten Kernresonanzen liegen im Bereich von Röntgenstrahlung, für die es keine Laser im Labormaßstab gibt. Bis vor Kurzem war die Resonanzfrequenz des Thorium-Kerns nicht genau bekannt – bis diese doch mit einer großen Zahl von in einem Kristall eingebetteten Thorium-229-Kernen gefunden wurde. Damit öffnet sich der Weg hin zu einer präzisen Kernuhr, die eine sehr hohe Stabilität erreichen kann und neue Möglichkeiten für Uhrenexperimente auch im Bereich der Kernphysik eröffnet.

Dmitry Budker, Christian Lisdat, Tanja E. Mehlstäubler, Ekkehard Peik und Stefan Ulmer