Der menschliche Körper besteht aus der unvorstellbaren Zahl von 3 × 1013 Zellen, die sich in 200 verschiedene Zelltypen unterteilen lassen. Jeder Zelltyp erfüllt bestimmte Aufgaben und hat dazu passende physikalische Eigenschaften. So können Muskelzellen Kräfte erzeugen und sich zusammenziehen, Immunzellen sind sehr beweglich und wandern durch den Körper, um Infektionen zu bekämpfen, während Zellen in der Haut oder der Lunge große stabile Verbände bilden und stark aneinanderhaften. Die meisten Zellen eines Menschen – 84 Prozent – sind Erythrozyten („rote Blutkörperchen“). Sie haben durch ihre abgeplattete Form eine große Oberfläche, was ihnen erlaubt, Sauerstoff effektiv aufzunehmen. Diesen transportieren sie von der Lunge ins Gewebe. Während ihrer Lebenszeit von 120 Tagen durchqueren sie in jeder Minute einmal den gesamten Körper und müssen dabei extreme mechanische Belastungen aushalten.
Menschliche Zellen sind etwa zehn bis 50 Mikrometer groß, daher mit optischen Mikroskopen sehr gut zu betrachten. Obwohl einzelne Biomoleküle nur Pikonewton-Kräfte erzeugen können, ist die Gesamtkraft einer Zelle rund eine Million Mal größer und damit gut messbar, z. B. als Verformung einer elastischen Umgebung. Die Zellkräfte sind aber nicht gleichmäßig über die Zelloberfläche verteilt, sondern treten in mikrometergroßen Bereichen auf, in denen Biochemie und Mechanik besser miteinander gekoppelt werden können. Hier liegen die Kräfte in der Größenordnung von Nanonewton, also etwa tausendmal höher als die eines einzelnen Biomoleküls.
Menschliche Zellen sind von einer nur vier Nanometer dünnen Membran umgeben. Solche Membranen umgeben auch Strukturen innerhalb der Zelle – die Organellen – und außerdem viele humanmedizinisch relevante Viren, wie etwa das Grippevirus oder SARS-CoV-2. Große Moleküle, Biopolymere, bilden das innere Skelett der Zelle, welches ihr mechanische Stabilität und die Fähigkeit zur Bewegung und Teilung verleiht. Das Anhaften, Bewegen und Teilen von Zellen sind die Hauptprozesse auf Zellebene, die physikalische Kräfte benötigen. Das Hauptziel der zellulären Biophysik besteht demnach darin, diese Prozesse sowie das Zusammenspiel von Zellen im Gewebe zu verstehen.
Physikalische Eigenschaften von Zellen vermessen
Der Erfolg der zellulären Biophysik ist eng verbunden mit den Konzepten und Methoden der Physik der weichen Materie (siehe auch Seite 97). Weiche Materie ist ein Teil der kondensierten Materie, die sich wiederum in Festkörper und Flüssigkeiten aufteilen lässt. Festkörper wie Kristalle oder Plastik kehren nach einer Deformation wieder in ihre ursprüngliche Form zurück, weil die Atome, aus denen sie bestehen, feste Nachbarschaftsbeziehungen unterhalten. Flüssigkeiten wie Wasser oder Honig haben diese stabilen Verbände nicht und fließen unter äußeren Kräften in eine neue Form – sie sind viskos.
Weiche Materie zeichnet sich dadurch aus, dass sie durch schwache Wechselwirkungen wie Van-der-Waals- oder hydrophobe Kräfte zusammengehalten wird. Die niedrigen Energien dieser Wechselwirkungen führen dazu, dass diese Materialien sehr weich sind: Gewebe ist ähnlich elastisch wie Weichkäse. Zur weichen Materie gehören Polymere (sehr große, oft langkettige Moleküle), Kolloide (Fest-Flüssig-Mischungen) und eben auch die Membranen, die alle Zellen und ihre Organellen umgeben.
Eine Besonderheit von biologischen Zellen und Geweben ist, dass sie elastisch und viskos zugleich sind. Die viskoelastischen Eigenschaften von Zellen passen zu ihrer biologischen Funktion: Sie müssen verformbar sein, um sich in der Zellbewegung durch kleinste Verengungen quetschen zu können, und gleichzeitig ausreichend stabil, um große Kräfte auszuhalten und dabei nicht kaputtzugehen. Eine weitere besondere Eigenschaft von biologischen Zellen ist, dass sie ihre Viskoelastizität durch kontinuierlichen Umbau erreichen: Sie verwenden lokale Energiequellen, um ihr mechanisches System ständig neu aufzubauen und an neue Anforderungen anzupassen. Diese Energie benötigen sie auch für die elementaren Prozesse Teilung, Bewegung und Haftung. Welche physikalischen Kräfte die Zellen dabei aufbringen können, und wie sie diese aufbringen, können wir mithilfe der Zellkraftmikroskopie untersuchen.
Bei der Zellkraftmikroskopie lassen wir die Zelle auf weichen Substraten aus Polymermaterialien wachsen, in die kleine Kunststoffpartikel eingegossen sind. Wenn nun die Zelle sich zusammenzieht oder sich bewegt, verformt sie dabei das Substrat, und wir können die Verformung anhand der Bewegung dieser Partikel bestimmen. Mit der bekannten Elastizität des Substrats berechnen wir aus der Verformung das Kraftfeld mit einer Auflösung von weniger als einem Mikrometer!

Die weichen Substrate bringen noch einen weiteren Effekt zutage: Sie sind der natürlichen Umgebung der Zellen viel ähnlicher als harte Zellkulturschalen aus Glas oder Kunststoff. Und tatsächlich haben erste vergleichende Experimente mit verschiedenen Unterlagen gezeigt, dass Zellen die Steifigkeit ihrer Umgebung erfühlen und sich an diese anpassen.
Zellbewegung- und teilung im Licht der modernen Physik

Die Entwicklung der Zellkultur (also der Möglichkeit, Zellen im Reagenzglas am Leben zu halten und außerhalb des Körpers zu beobachten) ermöglichte erstmals, die wichtigsten Prozesse in Zellen quantitativ zu vermessen. Mithilfe der Fluoreszenzmikroskopie lassen sich dabei ganz gezielt Bestandteile wie die verschiedenen Komponenten des Zytoskeletts sichtbar machen. In den 1990er-Jahren wurde dieses Gebiet durch die Einführung von elastischen Substraten und Mikrostrukturierung weiter revolutioniert, die es jetzt auch erlauben, die Rolle von Steifigkeit und Geometrie auf die Zellen umgebenden Gewebes zu untersuchen.
Heute ist klar, dass die permanente Erneuerung im Zytoskelett den Zellen erlaubt, sich zu bewegen und zu teilen. Diese ständige Erneuerung wird durch lokale Energiequellen getrieben und erzeugt einen stetigen Materialfluss. Diesen kann die Zelle nach Bedarf an die Umgebung koppeln und damit Bewegung erzeugen. Die Physik der weichen Materie stellt dabei mit der Theorie der aktiven Gele ein Konzept zur Verfügung, um diese Prozesse auf der mesoskopischen Ebene der Zelle – also dem Bereich zwischen wenigen Nanometern und ein paar Mikrometern – zu analysieren.
Um Zellen zu vermessen, die nicht auf Oberflächen vorliegen, sondern in Flüssigkeiten, werden häufig mikrofluidische Methoden verwendet. Dabei wird die mit Zellen angereicherte Flüssigkeit durch kleinste Kanäle geleitet. Nur einzelne Zellen nacheinander können diese Kanäle passieren. Diese Kanäle sind durchsichtig, sodass sich die Zellen mikroskopisch beobachten lassen, während biophysikalische Experimente mit ihnen durchgeführt werden: Das können beispielsweise Verformungstests sein, die dann mithilfe der Rückverformung Aufschluss über Elastizität und Viskosität einer Zelle geben.
Diese physikalischen Eigenschaften der Zellen können auch konkrete medizinische Bedeutung haben: Obwohl Tumoren in ihrer Gesamtheit makroskopisch hart sind – sie lassen sich ertasten –, sind die darin enthaltenen Krebszellen eher weicher als die gesunden Zellen. Diese Eigenschaft erlaubt ihnen nämlich, durch das menschliche Gewebe zu wandern. Indem man die mechanischen Eigenschaften von Zellen vermisst, kann man demnach Krebszellen, etwa in einer Blutprobe, identifizieren. Dies eröffnet neue Möglichkeiten in der medizinischen Diagnostik. Und auch in den Materialwissenschaften könnten die Erkenntnisse der zellulären Biophysik Anwendung finden, etwa bei der Entwicklung selbstheilender Materialien.