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Physik und Leben

Einblicke in die Welt der Proteine

Proteine sind die Arbeitspferde des Lebens. Welche Funktionen sie im Organismus ausführen, ergibt sich aus ihrer Struktur und ihrer Dynamik. Um zu verstehen, wie Leben auf molekularer Ebene funktioniert, muss daher die dreidimensionale Struktur der Biomoleküle und ihre Bewegung in Raum und Zeit entschlüsselt werden.

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Ohne Proteine kein Leben: Die wichtigen Biomoleküle sind an vielen biologischen Vorgängen wie dem Stoffwechsel, der Bewegung von Muskeln und der Abwehr von Infektionen beteiligt. Sie bestehen aus einer Kette von Aminosäuren, deren Reihenfolge das Genom festlegt. Aber nicht nur die Zusammensetzung, sondern auch die Form eines Proteins bestimmt dessen Funktion. Der Heilige Gral der molekularen Biophysik und Strukturbiologie besteht deshalb darin, die dreidimensionale Struktur eines Proteins aus seiner Aminosäuresequenz vorherzusagen.

In den vergangenen hundert Jahren wurde eine Vielzahl von experimentellen Methoden entwickelt, um die räumliche Struktur von Proteinen zu analysieren. Die drei wichtigsten sind die Röntgenstrukturanalyse, die Kernspinresonanzspektroskopie (NMR-Spektroskopie) und die Kryoelektronenmikroskopie.

Bei der Röntgenstrukturanalyse wird ein Röntgenstrahl auf eine Probe geschickt, dort an den Atomen abgelenkt und von einem Detektor aufgezeichnet. Das resultierende Beugungsbild gibt dann Aufschluss über die Position der einzelnen Atome. Allerdings muss die Probe bei dieser Methode in regelmäßiger Form, also als Kristall, vorliegen. Anders als bei Festkörpern ist das bei Proteinen in der Regel nicht der Fall. Die benötigten Proteinkristalle müssen deshalb aufwendig gezüchtet werden. Das braucht oft viel Geduld, manchmal über mehrere Jahre hinweg.

Bei der NMR-Spektroskopie werden die quantenmechanischen Eigenschaften der Molekülbestandteile in einem Magnetfeld vermessen – ähnlich wie bei einem Magnetresonanztomografen (MRT), nur eben auf viel kleinerer Skala. Diese Methode funktioniert aber nur bei relativ kleinen Molekülen zuverlässig.

Lässt sich die Struktur weder durch die Röntgenstrukturanalyse noch durch NMR-Messungen bestimmen, so bietet die Kryoelektronenmikroskopie einen revolutionären neuen Weg: Proteine, größere Komplexe und auch molekulare Maschinen können „schockgefroren“ und zu unterschiedlichen Zeitpunkten und Orientierungen schnappschussartig aufgenommen werden. Die zugrundeliegende Transmissions-Elektronenmikroskopie (EM) wurde bereits in den 1930er-Jahren entwickelt. Die zur Strukturanalyse verwendeten schnellen Elektronen lassen sich quantenmechanisch als Materiewellen mit einer ihrer Energie entsprechenden Wellenlänge beschreiben. Diese kann wesentlich kleiner sein als bei sichtbarem Licht, weshalb mit den Elektronenmikroskopen Auflösungen von Strukturen kleiner als einem Nanometer möglich sind. Das entspricht zwar der Größenordnung der Biomoleküle, trotzdem gab es hierbei lange ein Problem: Im Vakuum des Elektronenmikroskops trocknen Biomoleküle aus und ihre Struktur verändert sich.

Durch Einfrieren und einige weitere Tricks gelang es aber schließlich Richard Henderson, Joachim Frank und Jacques Dubochet, die Struktur von Proteinen und anderen Biomolekülen mit einer Auflösung kleiner als einen Nanometer zu erhalten (Nobelpreis 2017). Die Kryoelektronenmikroskopie erlaubte beispielsweise 2015, ein atomgenaues 3D-Modell des Zika-Virus zu erstellen, das damals in Lateinamerika zu einer Erkrankungswelle geführt hatte. Solche detaillierten Modelle sind die Grundlage für die Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten.

Drei Methoden, 230 000 Datensätze

Dank dieser modernen experimentellen Möglichkeiten ist die dreidimensionale Struktur vieler Proteine bereits bestens bekannt: Die internationale Proteindatenbank, in der all diese Ergebnisse abgelegt werden, enthielt Anfang 2025 über 230 000 Einträge. Trotzdem ist die Erzeugung dieser Daten mühsam und aufwendig. Daher wäre die computergestützte Berechnung der räumlichen Struktur von Proteinen aus der aus der DNA ablesbaren Abfolge ihrer Aminosäuren der Königsweg, der weitere Experimente zur Strukturerkundung im Prinzip unnötig machen würde.

Proteinstrukturen aus Computersimulationen

In Molekulardynamik-Computersimulationen formulieren Wissenschaftler:innen mathematisch die Kräfte, die zwischen allen Atomen eines Proteins wirken. Mit Supercomputern lässt sich aus Newtons zweitem Gesetz zu Kraft und Beschleunigung dann die Bewegung dieser Moleküle vorhersagen. Die dafür verwendeten Rechnerverbünde haben oft die Rechenleistung von vielen Millionen PCs, wie man sie aus dem Alltag kennt. Sie benötigen für ihren Betrieb etwa so viel Energie wie eine Kleinstadt mit mehreren Tausend Einwohner:innen. Ergebnisse dieser Simulationen zeigen, wie sich Moleküle spontan organisieren. Die daraus erstellten Videos mit einer extrem hohen räumlichen und zeitlichen Auflösung sind visuell sehr eindrücklich, beruhen aber auf Mo­dell­an­nah­men und Näherungen. Deren Genauigkeit bestimmt, wie gut sie die physikalischen Realität beschreiben.

Auf experimenteller Seite wurden innovative Spektroskopiemethoden (siehe Seite 137) entwickelt, die eine Kombination aus fluoreszierenden Molekülen, Lasern und Detektoren verwenden, und mit denen die Bewegung einzelner Moleküle verfolgt werden kann. Diese Methoden tragen dazu bei, wichtige Aspekte der Dynamik von Biomolekülen experimentell zu überprüfen.

Detaillierte Strukturansicht der mitochrondialen ATP-Synthase, die als Protonenpumpe arbeitet und für die Herstellung von ATP, dem Energieträger in allen Zellen, zuständig ist. Die Abfolge der Aminosäuren, die das Protein bilden, ist ein eindimensionaler Bauplan einer dreidimensionalen Struktur. Diese zu verstehen ist ein großes Ziel der Strukturbiologie.

Mit den Molekulardynamiksimulationen lässt sich auch die Faltung eines Proteins nachvollziehen: Bei diesem zentralen Prozess organisieren sich Biomoleküle wie Proteine und einige Nukleinsäuren aus einer linearen Anordnung spontan in eine immer gleiche 3D-Struktur, die für ihre Funktion entscheidend ist. Einige neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson beruhen auf einer Fehlfaltung bestimmter Proteine. Diesen Prozess zu verstehen ist darum ungemein wichtig.

Im Idealfall sollten Informationen zur Faltung aus einer ausreichend langen Simulation zu gewinnen sein. Es war jedoch lange unklar, ob die Molekulardynamikrechnungen präzise genug sind, um die Einzelschritte zu reproduzieren. Das änderte sich 2010, als Fortschritte in der Computerhardware die ersten Simulationen der Proteinfaltung mit atomarer Auflösung ermöglichten. Im Jahr 2013 erhielten Martin Karplus, Michael Levitt und Arieh Warshel den Chemie-Nobelpreis für ihre Pionierarbeit bei der Entwicklung physikalisch basierter Computersimulationen zur Untersuchung von Molekülen. Diese Auszeichnung war ein Beweis für die Reife des Fachgebiets und betont den interdisziplinären Charakter der Biophysik.

Praktische Anwendung in der Coronapandemie

Darstellung der berechneten Form eines Spike-Proteins des SARS-CoV-2-Virus. Solche Untersuchungen können in Zukunft auch dabei helfen, neue Mutationen zu verstehen und entsprechende Impfstoffe zu entwickeln.

Laufende Entwicklungen zielen darauf ab, Simulationen von immer komplexeren Systemen auf umfangreicheren Zeit- und Raumskalen zu ermöglichen. Die statistische Physik bietet die Grundlage für die Entwicklung effizienter Methoden zur Beschleunigung von Simulationen, indem man sich auf wichtige Ereignisse konzentriert oder eine geringere räumliche Auflösung gegen die Möglichkeit eintauscht, längere Zeitskalen zu erfassen. Auch die Modellierung der Kräfte, die zwischen verschiedenen molekularen Bausteinen wirken, wird immer besser und ermöglicht Simulationen komplexer heterogener Systeme. Innerhalb der nächsten zehn Jahre könnten realistische Simulationen ganzer Zellen möglich werden.

Bei der SARS-CoV-2-Krise wurden die neuen Möglichkeiten und der enorme Nutzen der molekularen Biophysik auf eindrucksvollste Weise sichtbar: Nur wenige Monate nach Ausbruch der Pandemie lieferte eine Kombination von Elektronenmikroskopie und molekulardynamischer Simulation atomgenaue Modelle des Spike-Proteins, das es dem Virus ermöglicht, menschliche Zellen zu infizieren. Die dabei verwendeten digitalen Modelle des Virus sind sehr komplex und enthalten das Spike-Protein, die Lipiddoppelschicht, in die es eingebaut ist, und die Glykane, komplexe Zucker, die seine Oberfläche bedecken und vor dem Immunsystem schützen.

Künstliche Intelligenz treibt die Strukturforschung weiter

Neue Methoden des maschinellen Lernens (ML) und der künstlichen Intelligenz (KI) haben in den letzten Jahren die molekulare Biophysik und Strukturbiologie revolutioniert. Im Jahr 2018 hat AlphaFold zum ersten Mal einen Wettbewerb für Strukturvorhersagen gewonnen, ein KI-Algorithmus, der dafür neuronale Netze verwendet, die auf die bekannten Strukturen für Proteine trainiert wurden. AlphaFold wurde von einigen Fachleuten als die wichtigste Errungenschaft der KI überhaupt bezeichnet, auch weil damit die Entwicklung von neuen Medikamenten deutlich einfacher wird. 2024 wurden John Jumper und Demis Hassabis von der Firma DeepMind für diese Entwicklung mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet, zusammen mit David Baker für seine Arbeiten im Bereich des computergestützten Proteindesigns.

AlphaFold basiert wie viele KI-Methoden auf einem komplexen neuronalen Netzwerk, das zum Trainieren große Datenmengen benötigt. Das System wurde anhand von 170 000 Proteinstrukturen trainiert, die in der internationalen Proteindatenbank verfügbar sind. Ohne die Arbeit von Generationen von experimentellen Biophysiker:innen wäre AlphaFold deshalb nicht möglich gewesen.

Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz helfen dabei, Herausforderungen in der molekularen Biophysik zu bewältigen, die zuvor als unlösbar galten. Die Verknüpfung von maschinellem Lernen und physikbasierten Simulationen entwickelt sich zu einem neuen leistungsstarken Paradigma, das vielleicht auch unser Verständnis, aber auf jeden Fall die Vorhersagbarkeit von biologischen Sys­temen dramatisch erhöhen wird.

Roberto Covino und Markus Sauer