Wie ein „gefährlicher Klimawandel“ zu definieren wäre und welche Temperaturleitplanke am ehesten weitreichende Klimafolgen verhindern könnte, wird seit Mitte der 1990er-Jahre intensiv und mit zunehmender Dringlichkeit diskutiert. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) zeigte in diesem Zusammenhang, dass es notwendig ist, die menschengemachte Erderwärmung auf 2 °C zu begrenzen. Diesen Vorschlag setzte das Pariser Klimaabkommen von 2015 völkerrechtlich um. Zunächst wurde die 2-Grad-Leitplanke hauptsächlich anhand der Klimavergangenheit der Erde begründet. Im Zusammenhang mit dem 3. Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC) entstand eine wesentlich tiefergehende wissenschaftliche Basis, die sich aus der Physik komplexer Systeme mit nichtlinearem Verhalten untermauern ließ. Damals wurde das Konzept der „großskaligen Diskontinuitäten“ im Klimasystem der Erde eingeführt. Gemeint waren disruptive und möglicherweise irreversible Veränderungen wesentlicher Komponenten der globalen Umwelt, die beim Überschreiten kritischer Parameterwerte durch menschliche Störungen ausgelöst werden dürften. Heute werden solche Veränderungen oft als Kippdynamiken bezeichnet. Eine geordnete Anpassung der Wirtschafts- und Sozialsysteme an solche disruptiven und oft abrupten oder irreversiblen Klimaveränderungen wäre nur mit großen Anstrengungen und hohen Kosten möglich. Möglicherweise könnten solche katastrophalen Veränderungen sogar globale Sicherheitsrisiken zur Folge haben.
Wichtige Forschungsfragen
für die Klimaphysik als Teil der integrierten ErdsystemwissenschaftWelche kritischen Schwellwerte oder Kipppunkte können für zentrale Teile des Klimasystems identifiziert werden? Mit welchen Folgen für menschliche Gesellschaften und die Gesamtstabilität des Erdsystems wäre eine Überschreitung solcher Schwellwerte verbunden?
Wie stabil sind die Kippelemente hinsichtlich einer zunehmend realistisch erscheinenden, vorübergehenden Überschreitung der Pariser Klimaleitplanken (Overshoot-Szenarien der globalen Erwärmung)?
Können Kippereignisse durch besonders rasch voranschreitende globale Erwärmung und andere schnell veränderliche menschliche Störungen, wie z. B. die Entwaldung im Amazonasgebiet, ausgelöst werden (sog. raten-induzierte Kippdynamik)?
Was ist das Risiko der Entstehung von Kippkaskaden durch dominoartige Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Komponenten des Erdsystems?
Wenn das Klima kippt
Kippdynamiken können bei mehreren großskaligen Bestandteilen des Erdsystems auftreten. Sie haben gemeinsam, dass sie bei zunehmender globaler Erwärmung oder zunehmenden anderen menschlichen Einflüssen (z. B. Entwaldung) zunächst im Wesentlichen stabil bleiben. Ab einem bestimmten Schwellenwert, dem Kipppunkt, können sie allerdings bereits durch kleine zusätzliche Störungen in einen qualitativ neuen Zustand versetzt werden, den sie nicht ohne Weiteres wieder verlassen können: Sie „kippen“. Das ist wie bei einer wertvollen Vase, die zunächst stehen bleibt, wenn die Tischplatte immer schiefer gestellt wird. Erst passiert nichts – dann reicht die kleinste Erschütterung und sie kippt. Im Erdsystem können solche Kippereignisse in verschiedenen Teilsystemen auftreten. Zu diesen Kippelementen von planetarer Bedeutung gehören unter anderem die polaren Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis, der Amazonasregenwald, boreale, also in höheren Breiten vorzufindende, Nadelwälder und die von Salz- und Temperaturunterschieden getriebene Umwälzbewegung im Atlantik.
Mit fortschreitender globaler Erwärmung nimmt das Risiko, Kipppunkte zu überschreiten, immer weiter zu. Daraus – eingedenk der Auswirkungen für das Mensch-Erde-System – resultieren entscheidende rote Linien für die internationale Klimapolitik – insbesondere die 2 °C-Grenze, die in der hohen Nichtlinearität des Klimasystems wissenschaftlich begründet ist. Auf diese Art kann die Forschung helfen, den immensen und unübersichtlichen Folgenraum der anthropogenen Umweltstörungen zu strukturieren, um damit das gesellschaftlich Gefährliche vom einigermaßen Beherrschbaren zu unterscheiden. Durch die sehr anschauliche Begrifflichkeit, die sich insbesondere an dem populären Buch „The Tipping Point“ des kanadischen Journalisten Malcom Gladwell aus dem Jahr 2000 orientierte, gelang es zudem, den klimawissenschaftlichen Diskurs in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Die deutschen Termini Kipppunkt, Kippelement und Kippereignis sind dadurch inzwischen in den allgemeinen Wortschatz eingegangen.
Bereits 2009 veröffentlichte die wissenschaftliche Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS) eine umfangreiche Sonderausgabe zur Thematik, welche versuchte, das zugehörige Forschungsfeld systematisch zu ordnen. Schon damals wurde die Problematik der großskaligen zerstörerischen Folgewirkungen der Erderwärmung auf Wirtschaftssysteme und Gesellschaften im Sinne einer negativen Kippdynamik angesprochen. Allerdings gab es damals kaum belastbare Studien. Seit einigen Jahren entwickelt sich zudem ein neues Forschungsgebiet, das insbesondere sogenannte positive Kipppunkte in sozio-ökonomischen Systemen untersucht, durch die eine rasche Dekarbonisierung zur Stabilisierung des Klimasystems eingeleitet werden könnte.
Metapher versus Mathematik
Auch wenn die Grundmetapher der Klimakipppunkte und -dynamiken einfach ist, stehen dahinter höchst komplexe physikalische und systemdynamische Zusammenhänge: Allgemein geht es darum, Systeme und Prozesse zu erforschen, die kritisches Verhalten zeigen. Das bedeutet, dass sie an einem bestimmten Punkt auf kleine Veränderungen hochgradig nichtlinear reagieren, also die Steigerung etwa der Temperatur um nur ein Prozent eine Auswirkung von weit mehr als einem Prozent hat. Darüber gibt es auf dem weiten Feld der dynamischen Systeme, wozu auch die Physik der Phasenübergänge gehört, zahlreiche wichtige Befunde. Beispielsweise kann ein System, das vorher einem bestimmten Wert zustrebte, nach einer geringen Änderung der Ausgangsparameter plötzlich zwischen zwei Werten hin- und herspringen. Solche Verzweigungen oder Bifurkationen lassen sich mathematisch untersuchen und beschreiben.
In kaum einem anderen System haben Kippdynamiken jedoch so weitreichende Folgen wie im Erdsystem, denn letztlich geht es um die Lebensgrundlagen der Menschheit. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in den vergangenen Jahren die Forschung und die Publikationen zu Kippdynamiken rasant zugenommen und inzwischen auch einen festen Platz im öffentlichen Diskurs gefunden haben. Mit dem raschen Heranrücken der globalen Oberflächenmitteltemperatur an die 2 °C-Linie in den vergangenen Jahren ist die Sorge um das Überschreiten von Kipppunkten erheblich gewachsen.
Aktueller Sachstand

Zahlreiche Befunde lassen annehmen, dass verschiedenartige Kippereignisse in der fernen Vergangenheit des Erdsystems tatsächlich mehrfach aufgetreten sind. Heute sind zentrale Kippelemente im Erdsystem von menschlichen Aktivitäten betroffen. Begrenzte Hinweise deuten sogar darauf hin, dass sich Teile von ihnen bereits einer kritischen Schwelle nähern könnten – allerdings sind diese mit großen Unsicherheiten behaftet. Im Folgenden beschreiben wir den aktuellen Sachstand und wichtige offene Forschungsfragen für einige für die Menschheit besonders kritische Kippelemente.
Grönland und die Antarktis könnten, wenn sie komplett abschmelzen, den Meeresspiegel massiv ansteigen lassen. Sie speichern derzeit so viel Eis, das ein vollständiges Abschmelzen den globalen Meeresspiegel um sieben Meter (Grönland) bzw. 58 Meter (Antarktis) anheben würde. Der beobachtete Massenverlust der polaren Eisschilde liegt derzeit am oberen Ende der langjährigen Vorhersagen. Dies ist auf das verstärkte Abbrechen und Schmelzen an der Oberfläche in Grönland und ein stärkeres Schmelzen an der Unterseite der Schelfeise in der Antarktis zurückzuführen. Bei fortschreitender Erwärmung wird sich der Beitrag der Eisschilde zum globalen Meeresspiegelanstieg weiter beschleunigen. Jüngsten Schätzungen zufolge könnte er bis zum Ende dieses Jahrhunderts bis zu einem Meter betragen. Aufgrund der langen Reaktionszeiten der Eisschilde ist jedoch klar, dass der größte Teil des Eises nach 2100 verloren gehen wird. Bestimmte Rückkopplungsmechanismen können dies noch deutlich verschärfen und zu komplexen Dynamiken, unter anderem zu Kippdynamiken, führen.
Die atlantische meridionale Umwälzzirkulation (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC) ist durch eine nordwärts gerichtete Strömung von warmem, salzhaltigem Wasser in den oberen Schichten des Atlantiks und eine südwärts gerichtete Strömung von kälterem, tiefem Wasser gekennzeichnet. Als eines der wichtigsten Ozeanzirkulationssysteme der Erde beeinflusst sie auch das Klima. Sie hat in der Erdgeschichte mehrere bedeutende Umstrukturierungen durchlaufen, wobei die Zirkulation mal stärker war und mal ganz zum Erliegen kam. Rückkopplungen spielen auch hier eine wichtige Rolle. So kommt mit der warmen, nordwärts gerichteten Strömung Salz in hohe Breiten. Salz erhöht die Dichte des sich abkühlenden Wassers, sodass dies absinkt und als Tiefenwasser zurück Richtung Süden strömt. Bei einer beginnenden Abschwächung der Zirkulation wird weniger Salz nach Norden transportiert, wodurch weniger Tiefenwasser gebildet wird, was die Zirkulation weiter schwächt. Auch das Abschmelzen des Meereises, Änderungen des Wärmeflusses an der Oberfläche oder Änderungen der Konvektion in der Labrador- und Irminger See beeinflussen die AMOC. Aufgrund begrenzter direkter Beobachtungen der AMOC-Stärke (siehe Seite 111) sind die aktuellen Trends unsicher, aber es gibt einige Anzeichen für eine anhaltende Abschwächung.

In tropischen und borealen Wäldern ist Kohlenstoff in lebender und sich zersetzender Biomasse sowie im Boden gespeichert. Sie spielen deshalb eine wichtige Rolle im globalen Kohlenstoffkreislauf. Aufgrund von Klima- und Landnutzungsänderungen sind Teile der borealen und tropischen Wälder bereits mit Kohlenstoff gesättigt. Beobachtungen deuten zum Beispiel darauf hin, dass das südöstliche Amazonasgebiet in jüngerer Zeit keinen Kohlenstoff mehr aufgenommen, sondern sogar welchen abgegeben hat. Der prognostizierte Rückgang der Niederschläge und eine Verlängerung der Trockenzeit könnten sogar ein Absterben des Amazonas-Regenwaldes einleiten. Ebenfalls bedroht durch Klima- und Landnutzungsänderungen ist das kaum erforschte riesige tropische Torfgebiet im Kongobecken – was massive zusätzliche CO2-Emissionen nach sich zöge.
Ausblick
Trotz der enormen Bedeutung dieser Phänomene für die Zukunft unseres Planeten und seiner Bewohner:innen bleiben erhebliche Unsicherheiten in unserem Verständnis der Kippdynamiken. Kippelemente im Klimasystem sind durch unterschiedliche und miteinander wechselwirkende Dynamiken und Zeitskalen gekennzeichnet, was ihre Erforschung besonders komplex macht. Die Physik spielt dabei eine Schlüsselrolle, insbesondere die Bereiche der Klimaphysik, der nichtlinearen Dynamik und der statistischen Physik. Diese Disziplinen liefern die Werkzeuge, um die Mechanismen zu verstehen, die diesen kritischen Phänomenen zugrunde liegen, und mögliche Zukunftsszenarien und -projektionen zu liefern.

Bereits in wenigen Jahren bis Jahrzehnten könnten die Pariser Klimaleitplanken von 1,5 bis 2,0 °C (Erwärmung der globalen Mitteltemperatur im Vergleich zum vorindustriellen Klima) überschritten werden. Außerdem ist die aktuelle, menschengemachte globale Erwärmung schneller als die historisch und erdgeschichtlich dokumentierten Klimaveränderungen der Vergangenheit. Die aktuelle Erwärmung erfolgt bis zu hundertmal schneller als die am Ende der letzten Eiszeit. Ein besonders dringender Forschungsbedarf besteht also hinsichtlich der Fragen, wie lange dieser kritische Eingriff in das Erdsystem anhalten oder wie schnell sich Störungen entfalten können, bevor das Klimasystem nachhaltig destabilisiert wird oder einige solcher Destabilisierungen bereits unabwendbar auf den Weg gebracht sind.
Ebenso wichtig ist das bessere Verständnis der Reaktion der Klimakippelemente auf vorübergehende Überschreitungen von kritischen Schwellenwerten, sogenannte Overshoot-Szenarien. Erste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass bei kurzen und niedrigen Überschreitungen von Kipppunkten eine langfristige, irreversible Destabilisierung der betroffenen Klimasysteme vermieden werden kann. Länger anhaltende und ausgeprägtere Überschreitungen, wie sie auf Grundlage der aktuellen Klimapolitik zu erwarten sind, würden allerdings mit größerer Wahrscheinlichkeit riskante Kippdynamiken auslösen.
Bei sogenannten Kippkaskaden können Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Komponenten des Erdsystems auftreten, wie z. B. zwischen dem Grönländischen Eisschild und der atlantischen Umwälzzirkulation: Einerseits gelangt durch das Abschmelzen des Eises mehr Süßwasser in den Nordatlantik, was die Zirkulation abschwächen könnte. Andererseits könnte sich Grönland durch eine Verlangsamung der AMOC abkühlen. Studien mit konzeptionellen Modellen zeigen, dass das Risiko von Kippkaskaden für eine globale Erwärmung im Bereich zwischen 1 und 2 °C besonders stark zunimmt. Allerdings sind diese dominoartigen Wechselwirkungen mit großen Unsicherheiten behaftet und einige zentrale Interaktionen noch wenig erforscht. Aktuelle Modell-Vergleichsstudien beziehen die neuesten Beobachtungen potenzieller Klimakippelemente ein, um die möglichen Risiken abschätzen zu können.
Die Forschung zu Kipppunkten vereint die Physik komplexer Systeme und die Umweltsystemanalyse, die durch Klima- und Umweltphysik sowie verwandte Disziplinen wie Ökologie und Ökonomie vorangetrieben wird. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit hin zu einer integrierten Erdsystemwissenschaft ist daher entscheidend für ein umfassendes Verständnis von Kippelementen und ihren möglichen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesellschaft. Diese Forschung muss in der Zukunft politikrelevante Beiträge dazu leisten, wie katastrophale Auswirkungen von Kippereignissen vermieden werden können, etwa indem sie die Eigenschaften sogenannter „sicherer“ Overshoot-Szenarien der globalen Erwärmung herausarbeitet. Weiterhin gilt es, eine umfassende Analyse der Dynamik wechselwirkender Klimakippelemente in einen neuen Politikrahmen der planetaren Gemeinschaftsgüter einzubinden. Durch internationale Kooperation lassen sich so gesellschaftliche Risiken begrenzen und kritische Lebenserhaltungsfunktionen unseres Planeten Erde schützen.