
Die uns bekannte Materie besteht aus wenigen winzigen Bausteinen, den Elementarteilchen. In den 1960er- und 1970er-Jahren gelang es, eine Theorie zu entwickeln, die die Wechselwirkungen zwischen diesen fundamentalen Bausteinen beschreibt. Durch aufwendige Messungen konnten Forschende dieses Standardmodell (SM) der Teilchenphysik immer genauer überprüfen. Bis heute gibt es keinen eindeutigen experimentellen Befund, der ihm widerspricht. Allerdings sind einige Phänomene, wie z. B. die Gravitation, die Dunkle Materie, die Dunkle Energie oder die im Universum beobachtete Asymmetrie von Materie und Antimaterie im SM nicht berücksichtigt oder mit ihm nicht zu erklären. Ob diese Effekte mit dem SM in einer umfassenderen Theorie vereinigt werden können, wird derzeit erforscht (siehe Seiten 54 und 69).
Symmetrien
In der Physik spielen Symmetrien, verstanden als Invarianzen unter mathematischen Transformationen, eine wichtige Rolle. Wenn man z. B. einen Kreis durch eine Rotation um einen beliebigen Winkel dreht, ist der Kreis invariant unter dieser Rotation, er sieht nach der Drehung genauso aus wie zuvor. Das Noether-Theorem (benannt nach der Mathematikerin Emmy Noether, 1882–1935) formuliert einen Zusammenhang zwischen physikalischen Erhaltungsgrößen und Symmetrien. Die Invarianz physikalischer Gleichungen bei zeitlicher und räumlicher Verschiebung bzw. Rotation führt dabei zur Energie-, Impuls- und Drehimpulserhaltung. Andere Erhaltungssätze, wie die Erhaltung der elektrischen Ladung, hängen mit der Eichsymmetrie zusammen, auf die bei der Behandlung der Wechselwirkungen näher eingegangen wird.
Materieteilchen
Die uns bekannte Materie besteht aus zwei verschiedenen Arten von Elementarteilchen, den Quarks und den Leptonen. Diese Teilchen haben eine Gemeinsamkeit, die auf der Quantenphysik beruht: Die Quantenzahl ihres Eigendrehimpulses (Spin) ist ½. Teilchen mit einer halbzahligen Spinquantenzahl (½, ³⁄² usw.) nennt man Fermionen. Insgesamt sind je sechs Quarks und Leptonen bekannt. Zu den Leptonen gehören neben den bekannten Elektronen noch die ebenfalls elektrisch geladenen Myonen und Tauonen sowie die zugehörigen elektrisch neutralen Neutrinos, die im SM als masselos betrachtet werden.
Die Quarks haben allesamt eine elektrische Ladung, die entweder genau ⅔ oder −⅓ der Elementarladung e (dem Betrag der Ladung des Elektrons) beträgt. Sie werden im SM anhand ihrer Masse zu Paaren angeordnet. Am leichtesten sind die Up- und Down-Quarks, dann kommen die Charm- und Strange-Quarks. Am schwersten schließlich sind die Top- und Bottom-Quarks. Man spricht auch von den drei Generationen von Quarks. Ähnlich werden auch die Leptonen in zugehörigen Generationen zusammengefasst.
Die Massenunterschiede zwischen den Generationen sind enorm. So ist das Top-Quark etwa 80 000-mal so massereich wie das Up-Quark. Auch bei den Leptonen gibt es starke Unterschiede: Die Masse des Tau-Leptons übersteigt die des Elektrons um das 3500-fache. Die uns vertraute stabile Materie aus Atomen besteht nur aus Teilchen der jeweils ersten Quark- und Lepton-Generation, den Up- und Down-Quarks und dem Elektron. Alle anderen elektrisch geladenen Quarks und Leptonen sind instabil.
Wechselwirkungen
Die Wechselwirkungen zwischen den Materiebausteinen (Fermionen) sind im SM auf den Austausch von Kraftteilchen zurückzuführen. Im Gegensatz zu den Fermionen haben die Kraftteilchen die Spinquantenzahl 1 und gehören mit dieser Eigenschaft zu den Bosonen (Teilchen mit ganzzahliger Spinquantenzahl). Üblicherweise bezeichnet man die Kraftteilchen als Eichbosonen oder Vektorbosonen.
Das Austauschteilchen der elektromagnetischen Wechselwirkung ist das Photon. Es kann mit allen elektrisch geladenen Teilchen in Wechselwirkung treten. Das SM kennt neben der elektrischen noch zwei weitere Arten von Ladung: die schwache und die starke Ladung und entsprechend die schwache und die starke Wechselwirkung.
Letztere wird durch masselose Gluonen vermittelt, die mit allen Teilchen mit starker Ladung interagieren. Nur Quarks tragen diese starke Ladung – und die Gluonen selbst. In einem Proton kommen drei Zustände dieser Ladung vor, die in ihrer Summe ladungsneutral sind. Dieses Mischungsverhalten der Ladungen der starken Wechselwirkung entspricht genau dem Farbmischverhalten aus den Grundfarben Rot, Grün und Blau, weshalb sie sich als Farbladung intuitiv darstellen lassen. Wie bei den Grundfarben ergibt die Überlagerung eines roten, grünen und blauen Quarks einen neutralen Zustand: Weiß in der Optik, neutrale Farbladung beim Proton. In Experimenten lassen sich nur solche farbneutralen Bindungszustände von Quarks wie das Proton oder das Neutron beobachten, aber freie – und somit farbige – Quarks nicht.
Die Vermittler der schwachen Wechselwirkung sind die W- und Z-Bosonen, die etwa hundertmal massereicher sind als ein Proton. Aufgrund ihrer großen Masse ist die Reichweite dieser Bosonen sehr kurz. Dies ist der Grund für die geringe Stärke der schwachen Wechselwirkung bei Energien, die kleiner als die W- und Z-Massen sind, wie etwa beim radioaktiven Betazerfall von Atomkernen.
Der bereits bei den Symmetrien erwähnte Zusammenhang zwischen Wechselwirkung und Eichsymmetrie lässt sich anschaulich am Beispiel einer Verkehrsampel erläutern. Unter globaler Eichsymmetrie versteht man, dass sich Messgrößen wie die Zahl der Verkehrsunfälle nicht ändern, wenn man global (überall) die internationale Ampelkonvention (Eichung) ändert und ab sofort bei Grün angehalten und bei Gelb losgefahren werden soll. Abgesehen von physiologischen Unterschieden in der Farbwahrnehmung und Gewöhnungseffekten sollte diese Symmetrie erfüllt sein, d. h. gegenüber dieser globalen Transformation bleibt die Anzahl der Verkehrsunfälle invariant. Nun könnte man fordern, dass es auch eine lokale Eichsymmetrie geben soll; das würde bedeuten, dass die Anzahl der Unfälle gleich bleiben soll, wenn sich die Eichung lokal (von Ampel zu Ampel) ändert. Dies ist nur möglich, wenn es eine Wechselwirkung zwischen Ampel und Autofahrern gibt, die die Änderung der lokalen Eichung mitteilt, etwa durch ein Hinweisschild an jeder Ampel. Die lokale Eichsymmetrie erzwingt also eine Wechselwirkung und definiert gleichzeitig eindeutig deren Eigenschaften.

Der Higgs-Mechanismus
Die lokale Eichsymmetrie verlangt, dass alle Teilchen masselos sein müssen, was in klarem Widerspruch zur Beobachtung steht. Eine Lösung bietet der Higgs-Mechanismus. Hierbei tritt ein zusätzliches Bosonenfeld mit Spinquantenzahl 0 zum SM hinzu. Man kann sich dieses sogenannte Higgs-Feld analog zum elektrischen Feld oder Gravitationsfeld als etwas vorstellen, das den ganzen Raum des Universums durchdringt. Es zeigt sich nun, dass die ursprünglich masselosen Eichbosonen, Quarks und Leptonen erst durch die Wechselwirkung mit dem energiereichen Higgs-Feld massiv werden. Die Masse eines elementaren Teilchens ist in diesem Modell gewissermaßen die Wechselwirkungsenergie mit dem Higgs-Feld! Das erklärt zwar den Mechanismus der Massenerzeugung, aber die genauen Massenwerte der Quarks und Leptonen lassen sich nicht vorhersagen. Ein wichtiges Forschungsgebiet ist daher die Flavourphysik (siehe „Teilchen mit Geschmack“ auf Seite 47), deren Ergebnisse in Zukunft vielleicht bessere Einblicke in den genauen Mechanismus der Massenerzeugung gewähren werden. Der Higgs-Mechanismus verleiht den elementaren Materieteilchen (Leptonen, Quarks) ihre Masse. Gebundene Teilchenzustände (Hadronen), die aus Quarks zusammengesetzt sind (z. B. Protonen und Neutronen) erhalten zusätzlich einen Massenbeitrag über die Gluonbindungsenergie. Dieser ist für Protonen und Neutronen wesentlich größer als der Beitrag der Quarkmassen (siehe auch Seiten 48 und 50).
Die Entdeckung des Higgs-Teilchens im Jahr 2012 von den ATLAS- und CMS-Experimenten am Large Hadron Collider (LHC) des CERN krönte den Erfolg des SM. Ein Jahr nach dem experimentellen Nachweis erhielten François Englert und Peter Higgs den Nobelpreis für Physik für den Vorschlag des Higgs-Mechanismus. Genauere Messungen am LHC in den darauffolgenden Jahren bestätigten, dass das neue Teilchen genau die vom SM vorhergesagten Eigenschaften hat.
Der Higgs-Mechanismus könnte auch erklären, warum Neutrinos eine Masse haben. Dass sie eine Masse haben, und nicht masselos sind, wie das SM ursprünglich annahm, ist mittlerweile experimentell bewiesen: In den 1990er-Jahren wurde beobachtet, dass sich ein Neutrino einer Generation in ein Neutrino einer anderen Generation umwandeln kann (Neutrinooszillation). Dies ist nur möglich, wenn die Neutrinos massiv sind, was man mit dem Higgs-Feld erklären könnte. Da Neutrinos elektrisch neutral sind, wäre aber ebenso ein Modell denkbar, in dem Neutrinos Majorana-Teilchen (ihre eigenen Antiteilchen) sind. Diese Frage wird sehr intensiv in speziellen Experimenten untersucht (siehe auch Seiten 45 und 48).

Ausblick
Das SM der Teilchenphysik ist äußerst erfolgreich. Viele experimentelle Tests bestätigen diese Theorie mit beeindruckender Präzision. In den kommenden Jahren werden viele noch genauere Messungen möglich sein. Bisher beruhen die Ergebnisse der LHC-Experimente auf nur fünf Prozent der langfristig angestrebten Datenmenge! Die kommenden 15 Jahre in der Phase höchster Intensität des LHC werden vollkommen neue Möglichkeiten eröffnen, das SM mit hoher Präzision zu testen. Ein Schwerpunkt wird auf dem Higgs-Sektor liegen, da dieser der am wenigsten getestete Teil des SM ist. Eine präzise Vermessung der Eigenschaften des Higgs-Bosons könnte Hinweise auf neue Physik jenseits des SM liefern. Ein konkretes Ziel ist die Vermessung der bisher nicht nachgewiesenen Selbstwechselwirkung von drei Higgs-Bosonen. Die ist ein wichtiger Aspekt zum Verständnis des frühen Universums. Möglicherweise lässt sich mit einem verbesserten Verständnis des Higgs-Mechanismus und der sogenannten Flavourphysik, die sich mit den Quarkmassen und Wechselwirkungen der Quarks beschäftigt, die Anzahl der freien Parameter der Theorie eingrenzen.
Aus astrophysikalischen Messungen ist bekannt, dass die der Materie aus Leptonen und Hadronen zugeordnete Energie nur etwa fünf Prozent des Energieinhalts des Universums darstellen. Der Rest wird der Dunklen Materie und Dunklen Energie zugeschrieben. Zur Erklärung dieser beiden Phänomene gibt es im SM keine geeigneten Kandidaten (Seite 67). Bisher ist unklar, ob beide Energiebeiträge durch bisher unentdeckte Teilchen oder Felder erklärt werden können. Falls ja, müsste das SM um diese Beiträge ergänzt werden. Darüber hinaus sind fundamentale Prozesse bisher unverstanden, die zur Ausbildung unseres Universums beitragen und verhindert haben, dass im frühen Universum die ganze Materie zerstrahlt ist. Es gibt viele experimentelle und theoretische Forschungsaktivitäten, um diese Fragen zu klären. Das Higgs-Boson könnte das einzige Teilchen im SM sein, das mit der Dunklen Materie und der Dunklen Energie Wechselwirkungen zeigt. Am LHC stünde damit ein Tor zum „Dunklen Sektor“ offen, das es zu nutzen gilt.
Beim Ziel, jenseits des SM eine verbesserte Theorie zu finden, werden zwei unterschiedliche Wege beschritten. Einerseits sucht man nach neuen Symmetrien und Konzepten, um in einem großen Wurf eine „Theorie von Allem“ zu formulieren. Bekannte Beispiele dieser Forschung sind die Große Vereinheitlichung, die Supersymmetrie und die Superstring-Theorie (siehe Seite 53). Andererseits werden mögliche Abweichungen vom SM mit sogenannten effektiven Theorien parametrisiert. Dies könnte mithilfe von Präzisionsmessungen und theoretischen Berechnungen Hinweise auf eine neue Physik liefern.
Gleichzeitig mit der experimentellen Bestätigung des SM der Teilchenphysik entwickelte sich auch das SM der Kosmologie. Mit immer genaueren Messungen wurde das sogenannte Lambda-CDM-Modell vielfach bestätigt. Dabei steht Lambda für die kosmologische Konstante und CDM für kalte Dunkle Materie (engl. „cold dark matter“). Da bisher keine kosmologischen Messgrößen für die Entwicklung des Universums vor der Entstehung der Atomkerne ca. drei Minuten nach dem Urknall experimentell zugänglich sind, werden die Vorgänge in Sekundenbruchteilen nach dem Urknall aus dem SM der Teilchenphysik abgeleitet. In Zukunft könnte es gelingen, mithilfe von Gravitationswellen einen direkten experimentellen Zugang zu Prozessen kurz nach dem Urknall zu erhalten. Damit würden sich Kosmologie und Teilchenphysik noch stärker als bisher gegenseitig befruchten, und das frühe Universum könnte zum Labor der Teilchenphysik in einem Energiebereich werden, der mit bisherigen Beschleunigern nicht zugänglich ist.
