In der Physik wird immer wieder Unerwartetes und Neues entdeckt. Steht ein besseres Mikroskop oder Teleskop zur Verfügung, kann man damit noch kleinere Strukturen erkennen oder in noch größere Entfernungen schauen und sieht dann plötzlich Objekte und Phänomene, die noch nie beobachtet wurden. Verbesserte Messverfahren, spezielle Materialien oder die Präparation neuer komplexer Systeme eröffnen Fenster zur physikalischen Welt, die vorher geschlossen waren. Zum Beispiel haben Gravitationswellendetektoren uns vor zehn Jahren ein zwar von Einstein vorausgesagtes, jedoch bis dato technisch nicht realisierbares, gravitatives Auge ins Universum geöffnet. Neue Horizonte eröffnen sich auch, wenn man ein weitreichendes Theorem zum ersten Mal beweist, eine noch bessere Computersimulation durchführt oder bislang nicht bekannte Methoden der Datenanalyse, wie in der künstlichen Intelligenz oder dem neuromorphen (dem Gehirn abgeschauten) Rechnen anwendet, die vollkommen neue Strukturen und Einsichten liefern. Neues und Unerwartetes ergibt sich praktisch täglich auf allen Ebenen der Physik und macht sie so spannend!
Wenn es darum geht, die physikalische Terra Incognita zu betreten, etwas substanziell Neues in der Natur zu finden, neue Phänomene, neue Zusammenhänge, neue Gesetze, dann gibt es viele Möglichkeiten:
- Originelle Ideen für Experimente oder theoretische Untersuchungen;
- das Ausmessen bekannter Phänomene mit höherer Präzision oder das Vordringen in Bereiche, die uns bisher verschlossen waren, wie z. B. die Untersuchung von Systemen auf kleinsten Distanzen, bei höchsten Drücken und Dichten oder bei tiefsten Temperaturen; dorthin zu gelangen, wo noch niemand war, zu anderen Planeten, Asteroiden oder Kometen oder sogar in den interstellaren Raum; oder Teleskope in den Weltraum zu bringen, um die Strahlung, die uns Informationen liefert, unbeeinträchtigt von der Atmosphäre zu empfangen;
- Entwicklung neuer oder verbesserter (z. B. mathematischer oder numerischer) Methoden, die Anwendung besserer Algorithmen, von KI und der Einsatz von immer leistungsfähigeren Computern: Die Physik komplexer Systeme, die Gitter-Eichtheorie (die exakte Quantenchromodynamik) oder die Datenanalyse von Messungen am CERN oder von astronomischen Beobachtungen profitieren davon. Die Entwicklung von Quantenalgorithmen für zukünftige Quantencomputer verspricht die Bearbeitung komplexer Probleme aus der Chemie, den Materialwissenschaften, der Physik der kondensierten Materie und anderer Bereiche.
Neben dieser generellen Strategie, Neues zu finden, gibt es offene, ungelöste Fragen oder Unstimmigkeiten im Gesamtgebäude aus physikalischer Theorie und Experiment, die andeuten, dass wir bisher eben noch nicht alles richtig verstanden haben. Solche Fragen zielen dabei in eine bestimmte Richtung, denn es ist im Rahmen unserer Modelle schon bekannt, wonach wir suchen. Zu den großen offenen Fragen gehören:
- Die Frage nach der Dunklen Materie, Materie, die aufgrund beobachteter Phänomene eigentlich da sein muss, die wir aber nicht „sehen“. Da geht es einerseits um großräumige Phänomene im Universum, aber auch um die Suche nach neuen Teilchen, die diese Dunkle Materie ausmachen könnten. Trotz einer fast hundertjährigen Suche haben wir leider immer noch keinen einzigen Hinweis darauf, was es mit dieser Dunklen Materie auf sich hat. Sind es wirklich neue Teilchen, oder ist es doch eine modifizierte Gravitationstheorie, oder beides kombiniert? Diese Frage ist vollkommen offen.
- Die Frage nach der Dunklen Energie, die sich schon Einstein gestellt hat und sich aus theoretischen Überlegungen zur Dynamik des Universums ergibt, ist ebenfalls völlig ungelöst. Was treibt das Universum zur beobachteten (beschleunigten) Expansion?
- Eine große Frage aus der allgemeinen Relativitätstheorie ist die sogenannte kosmische Zensur. Obwohl aus einem Kollaps von Neutronensternen sowohl Schwarze als auch sogenannte Weiße Löcher (sozusagen das Gegenteil eines Schwarzen Lochs) entstehen können, wurden bisher keine Weißen Löcher gesehen. Wir kennen das Naturgesetz nicht, welches einen kollabierenden Stern zwingt, ausschließlich in einem Schwarzen Loch zu enden.
- Die Baryonen-Asymmetrie: Die Quantenmechanik sagt, dass nach dem Urknall Materie und Antimaterie, beides bestehend aus Baryonen, in gleicher Weise erzeugt sein sollten. Die Frage ist nun, warum wir aber im Universum nur Materie und kaum Antimaterie sehen.
- Wie entsteht die Masse der Neutrinos?
- Besitzt die Quantenmechanik fundamentale Grenzen? Dabei können Grenzen z. B. die Masse oder Energie der Quantensysteme sein oder die Distanz, über die Systeme verschränkt werden können. Damit hängt die Frage zusammen, wie der klassische Grenzfall der Quantenmechanik streng formuliert werden kann.
- Gibt es neben unserer Erde Leben auf anderen Planeten? Und wie kann man Leben dort überhaupt nachweisen?
Neben diesen Fragen gibt es noch offene Fragen innerhalb unseres theoretischen Gebäudes:
- Gravitation sollte wie alle anderen physikalischen Felder quantisiert, d. h. aus kleinsten Entitäten, den Gravitonen, „zusammengesetzt“, sein. Die Theorie der Gravitation lässt sich aber mit den bekannten Methoden nicht quantisieren – auch hat man diese Gravitonen experimentell noch nicht gefunden. Obwohl es verschiedene Ansätze zur Quantengravitation wie die Stringtheorie, die Schleifenquantengravitation, die kanonische Quantengravitation und weitere gibt, konnte noch kein Ansatz überzeugend ausformuliert werden. Alle Ansätze modifizieren aber die etablierten physikalischen Theorien derart, dass es eine winzige Verletzung des fundamentalen Einsteinschen Äquivalenzprinzips geben sollte – eine wesentliche Motivation für viele einschlägige Experimente.
- Daran schließen sich Fragen an, wie denn die mathematischen Singularitäten im Zentrum von Schwarzen Löchern zu verstehen sind, also die theoretische Aussage, dass sich die gesamte Masse eines Schwarzen Lochs (oft Milliarden von Sonnenmassen) in einem „mathematischen Punkt ohne Ausdehnung“ konzentriert. Die Allgemeine Relativitätstheorie ist zwar „clever“ genug, diese Singularitäten in uns nicht zugängliche Bereiche zu legen, aber befriedigend ist das nicht. Außerdem stehen Singularitäten im Widerspruch zur Quantentheorie.
- Damit hängt auch das Informationsparadoxon zusammen. Da Schwarze Löcher nur durch drei Parameter (Masse, Spin und Ladung) bestimmt sind, muss jede darüber hinausgehende Information von Objekten, die in das Schwarze Loch fallen, vernichtet werden. Das steht im Widerspruch zur Quantenmechanik. Man erhofft sich eine Lösung dessen im Rahmen einer Quantengravitationstheorie.
- Was wird uns die Quantenmechanik in Zukunft noch alles bieten? Diese Frage kann hier nur allgemein und vage gestellt und beantwortet werden, weil die Quantenmechanik unsere Intuition auf eine harte Probe stellt. Während die Postulate der Quantentheorie alle Experimente perfekt beschreiben, sind diese doch sehr abstrakt und wenig an unsere Anschauung angelehnt. Es gibt so merkwürdige Zustände wie die „Verschränkung“ – wir wissen über ein System mehr als über seine Einzelteile! Gerade diese Verschränkung ist aber der Stoff, mit dem Quantencomputer arbeiten werden. Es kann sein, dass noch weitere Strukturen der Quantenmechanik gefunden werden, von denen wir uns heute noch gar keine Vorstellung machen. Das ganze Potenzial der Quantenmechanik auf begrifflicher wie auch auf technischer Ebene ist heute noch nicht absehbar.
- Wie beschreibt man Vielteilchen-Nichtgleichgewichtssysteme? Welche Strukturen bilden sich auf welchen Skalen? Können wir irgendwann komplexe biologische Systeme vollständig physikalisch beschreiben?
Ohne die erkenntnisorientierten theoretischen und experimentellen Arbeiten in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts wären Produkte wie Laser, medizientechnische Anlagen, LEDs und vieles mehr nicht möglich geworden. Dabei hätte zu der Zeit niemand an so weitreichende Anwendungen gedacht oder sich diese auch nur vorstellen können. Heute aber beruhen ganze Wirtschaftszweige auf den damaligen Arbeiten. Ähnliches sehen wir jetzt in der beginnenden Anwendung verschränkter Photonen oder künstlicher Intelligenz – mit noch unabsehbaren weiteren zukünftigen Entwcklungen.
Zusammengefasst stellen sich grundlegende Fragen nach einer gemeinsamen Zukunft von Gravitationsphysik und Standardmodell (SM) der Elementarteilchenphysik. Auch die Fragen, welche Überraschungen die Quantenwelt noch zu bieten hat und wie man komplexe Systeme im Nichtgleichgewicht bis hin zum Leben modelliert, werden uns noch lange beschäftigen.
Wahrscheinlich wird die Physik nie abgeschlossen sein. Vielleicht werden wir auch neue, kreativere Methoden der Erkenntnisgewinnung finden, vielleicht werden neue Rechenmethoden mit Quantencomputern oder KI-Simulationen und -Modellierungen ganz neue Konzepte hervorbringen. Ganz sicher ist, dass Physik immer spannend bleibt und die Natur uns immer neue Fragen stellt – und wir der Natur. Und es ist sicher eine der schönsten Herausforderungen dabei mitzuwirken, diese Fragen nach den Regeln der Natur zu beantworten.
