Die Physik, als die Naturwissenschaft schlechthin und gemeinsame Kulturleistung, ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit, weil sie es möglich macht, die materielle Welt durch Gesetze zu beschreiben, die nach unserem heutigen Wissensstand immer und überall gelten. Diese reichen von der Gravitation in der Astrophysik, also vom Größten, über elektromagnetische Phänomene bis in die submikroskopische Welt des Allerkleinsten, der Atome und Atomkerne. Wir können die Abläufe im Universum, auf der Erde, in den Atomen und Atomkernen exakt beschreiben und genaue Vorhersagen treffen. Es gibt bisher keine Experimente oder Beobachtungen, die den bisher gefundenen Gesetzen widersprechen. Damit hat die Menschheit enormes Wissen und beachtliche Erkenntnisse gewonnen, die es ihr ermöglichen, zu gestalten und Perspektiven zu schaffen.
Betrachtet man die unendliche Vielfalt in unserer Welt, so ist es mehr als erstaunlich und faszinierend, dass wir die Welt von den kleinsten räumlichen und zeitlichen Dimensionen von einem Billionstel eines Milliardstel Meters und entsprechenden Sekundenbruchteilen bis hin zur Ausdehnung und dem Alter des Universums von etwa 13,7 Milliarden Jahren erfassen, vermessen und mathematisch beschreiben können. Dies setzt voraus, dass wir Techniken zur Verfügung haben, physikalische Phänomene auf eben diesen kleinsten und größten Distanzen und Zeiten mit entsprechenden Genauigkeiten zu messen. Um z. B. Uhren mit Genauigkeiten zu bauen, dass sie vom fiktiven Start bei der Entstehung des Universums bis heute nur wenige Sekunden „falsch gehen“, muss alle Grundlagenphysik von Quanten- und Teilchenphysik über Elektrodynamik bis hin zur Gravitation berücksichtigt werden. Wie in dieser Publikation dargestellt, werden diese Genauigkeiten in Zukunft immer weiter verbessert. Wir sind sehr stolz auf diese hohe Kunst des Messens. Genauigkeit ist aber kein Selbstzweck, sondern wird jetzt und in Zukunft intensiv für praktische Anwendungen benötigt. Die Messgenauigkeit von Zeiten und Distanzen ist beispielsweise essenziell für die Realisierung der Weltzeit, für die täglich genutzten Navigationssysteme und für die globale Geodäsie, die wesentliche Daten für die Klimaforschung bereitstellt. Es sind genau diese praktischen und gesellschaftsrelevanten Anwendungen, die diese extreme Genauigkeit benötigen. Physik ist extrem genau.
Mit diesen Genauigkeiten müssen in gleichem Maße aber auch die Vorhersagen der Grundgesetze der Physik, wie Gravitation, Elektromagnetismus und Quantenphysik, Schritt halten. Deren Gültigkeit wird immer wieder mit den genauesten zur Verfügung stehenden Messgeräten geprüft. Andernfalls könnten Inkonsistenzen in der Interpretation der für praktische Anwendungen erhobenen Messdaten auftreten. Grundlagenforschung und praktische Anwendungen, auch die in der Industrie, gehen daher notwendigerweise Hand in Hand. Physik ist überall.
Es soll an dieser Stelle durchaus nicht verschwiegen werden, dass es in der Physik zahlreiche Fragen gibt, auf die es noch keine Antworten gibt. Dazu gehört die Frage nach dem Wesen der Dunklen Materie, deren Effekte wir unwiderlegbar beobachten, deren Teilchen wir aber bisher nicht imstande waren nachzuweisen. Es wird auch versucht, dies alternativ als Effekt einer modifizierten Gravitationstheorie zu interpretieren, was aber ebenfalls noch nicht gelungen ist. Des Weiteren gibt es die ungelösten Fragen nach der Dunklen Energie, der Baryonenasymmetrie und die nach der Quantisierung der Gravitation. Es mag sein, dass einfach noch die geniale Idee fehlt; eine große Hoffnung liegt aber auch darin, dass mit immer genaueren Messverfahren irgendwann neue Effekte gefunden werden, die uns Hinweise auf die Lösung dieser offenen Fragen geben. Es bleiben also noch viele Herausforderungen. Physik ist und bleibt spannend.
Die Physik zeigt uns auch genau, was wir definitiv nicht wissen können. So beschreibt die allgemeine Relativitätstheorie, dass wir niemals Informationen aus dem Inneren eines Schwarzen Lochs erhalten können. Und die Quantenmechanik zeigt mit ihrer Unschärferelation, dass wir in gewissen Konstellationen nicht beliebig genau messen können und dass wir einzelne Aspekte bei gewissen Messungen prinzipiell nicht vorhersagen können. Dieses absolute Unwissen kann aber von wichtigen Technologien wie der Quantenkryptografie oder Zufallsgeneratoren wiederum als wesentliche Ressource genutzt werden. Physik ist kreativ.
Mit den bisher gefundenen physikalischen Gesetzen können wir im Prinzip alle beobachteten Phänomene beschreiben, etwa wie Gravitationswellen entstehen, wie Sterne geboren werden und sterben, wie das Sonnensystem und unsere Erde entstanden, wie Fahrzeuge, Smartphones, Flugzeuge und Satelliten funktionieren, wie Windräder und Photovoltaikanlagen zu bauen sind, wie man Chips für Computer herstellt und schließlich wie man Quantencomputer baut und wie man diese nutzen kann – von der Medizintechnik ganz zu schweigen. Physik ist praktisch.
Der Weg von grundlegenden Erkenntnissen zu praktischen gesellschaftsrelevanten Anwendungen ist oft erstaunlich kurz. Die ersten Atomuhren wurden Anfang der 1960er-Jahre gebaut, 1978 wurde der erste GPS-Satellit mit Atomuhr in die Erdumlaufbahn gebracht. In den 1940er-Jahren wurde die Kernspinresonanz im Experiment gezeigt und in den 1970er-Jahren die darauf aufbauende medizinische Bildgebung entwickelt, die heute regelmäßig angewendet wird.
Mit der Physik können wir unser Leben und die Welt hin zum Besseren gestalten. Wo wären wir heute, wenn wir nicht die Maschinen und Technologien hätten, die unser Leben einfacher und reicher machen, und wenn es die Entwicklungen in der Medizinforschung nicht gäbe? Unsere Lebenserwartung wäre schlicht um vieles geringer und viele medizinische Eingriffe wären nicht möglich. Seien wir froh, dass viele Entwicklungen in der Physik, die zunächst aus reinem Forschungstrieb entstanden sind, diese sehr praktischen und für unser tägliches Leben hilfreichen Anwendungen möglich machen. Aktuell sind viele Physikerinnen und Physiker damit beschäftigt, die neu gefundenen Methoden der künstlichen Intelligenz und die neuen Quantentechnologien zum Nutzen der Gesellschaft weiterzuentwickeln. Physik macht unser Leben besser.
Die Physik hilft nicht nur, unser Leben angenehmer und lebenswerter zu gestalten, sondern trägt auch essenziell dazu bei, aktuellen Herausforderungen zu begegnen: Wir müssen das Klima besser verstehen und effiziente und schnell wirkende Gegenmaßnahmen für den Klimawandel identifizieren. Wir müssen die Effizienz umweltverträglicher Energien erhöhen, desgleichen auch unsere Mobilität umweltfreundlicher gestalten. Sicherlich tragen in Zukunft auch dazu die Methoden der künstlichen Intelligenz und die neuen Quantentechnologien wesentlich bei. Physik löst Probleme.
Aus den Erkenntnissen der Physik ziehen alle Menschen einen großen Nutzen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass man seit jeher Technologien missbrauchen kann: Physik kann der Menschheit Wohlstand und Glück bringen, dieselben Ergebnisse können aber auch zum Schaden bis hin zur Auslöschung der Menschheit eingesetzt werden. Es ist genau die Anwendung von Physik und Wissenschaft in der Technik und deren Durchdringung unserer globalen Wirtschaft, die uns letztendlich auch ins Anthropozän katapultiert, also in die Situation gebracht hat, unsere natürlichen Lebensgrundlagen, die Bio-, Hydro-, Litho-, und Atmosphäre massiv zu beeinflussen, zu stören und vielleicht sogar zu zerstören. Aber auch hier kann die Physik Aussagen machen. Die Physik hat schon lange vorhergesagt, wie sich das Klima entwickelt, falls die Menschheit ihren Lebensstil nicht ändert. Auch sind die Auswirkungen von Kernwaffeneinsätzen auf das Klima mit physikalischen Methoden vorhersagbar. Die Physik kann zu der Überprüfung von Abrüstungsverträgen beitragen. Es ist letztendlich dem Menschen überlassen, wie er sich entscheidet. Der Politik und der Gesellschaft stehen all diese Informationen und Methoden zur Verfügung. Sie sollten sie nutzen, denn eine Politik, ein kollektives Handeln gegen die Naturgesetze kann dauerhaft nicht funktionieren.
Physik ist heute wichtiger denn je. Die Methodik der Physik ist transparent, alle Ergebnisse können immer und überall überprüft werden. Die Physik arbeitet ausschließlich faktenbasiert. Daher trägt sie zu einem geordneten und konstruktiven gesellschaftlichen Diskurs bei. Physik basiert auf Fakten.
Ohne die vielen Ergebnisse aus der Mathematik könnte die Physik nicht so erfolgreich die Welt beschreiben. Oft haben aber auch physikalische Fragestellungen mathematische Entwicklungen angestoßen. Die Physik kooperiert eng mit der Chemie, trägt essenziell zur medizinischen Diagnostik bei und hat große Berührungspunkte zur Biologie und Biochemie bis hin zu den Sozialwissenschaften, die Methoden der statistischen Physik verwendet, um Verhaltensweisen von Menschen zu modellieren. Physik fließt in die Informatik und das Ingenieurwesen ein. Zusammen mit der Philosophie werden die Methodik der Physik immer wieder hinterfragt sowie die Erkenntnisse der Physik interpretiert. Physik ist interdisziplinär.
Nur in internationaler Zusammenarbeit können die notwendigen intellektuellen und finanziellen Ressourcen zusammenkommen, um große Fragestellungen z. B. in der Hochenergie- und Astrophysik, der Umweltphysik oder der Energieforschung erfolgreich zu bearbeiten. Isolationismus behindert den Erkenntnisgewinn. Physikalische Forschung trägt zur kulturellen Verständigung bei. Physik ist international.
Schließlich wird Wissenschaft von Menschen betrieben und kostet Geld. Der Nutzen der Physik für die Gesellschaft ist, wenn die Erkenntnisse richtig eingesetzt werden, allerdings groß, und in den meisten Fällen übersteigt der langfristige Ertrag bei Weitem die Kosten. Die Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung stellen auch eine Herausforderung für Politik und Gesellschaft dar. Innovative Physik gibt es nur in einer freien Gesellschaft. Auch benötigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehr Unterstützung, unter anderem auch weil die private Lebensplanung nicht immer synchron mit den Bedürfnissen der Wissenschaft ist. Menschen sind die wichtigste Ressource der Wissenschaft.

Das Werk „Physik: Erkenntnisse und Perspektiven“ entstand in einem kollaborativen Prozess, der die breite Expertise der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) nutzte. Aus den verschiedenen Gruppierungen der DPG haben sich zahlreiche Kolleginnen und Kollegen bereit erklärt, ihr Fachwissen in die Erstellung des Buchs einzubringen. In zwei vorbereitenden Workshops im Januar und Mai 2023 wurden zentrale Themen und Perspektiven diskutiert und festgelegt. Insgesamt haben rund 200 Personen aus Forschung, Lehre und Industrie an der Ausarbeitung der Inhalte mitgewirkt. Diese breite Beteiligung spiegelt die Vielfalt und Tiefe der physikalischen Forschung und deren Anwendungen wider. Das Ergebnis ist ein umfassendes Werk, das aktuelle Erkenntnisse aufgreift und gleichzeitig zukunftsweisende Perspektiven aufzeigt – ein Gemeinschaftswerk, das durch die kollektive Expertise der DPG getragen wird.
Diese Publikation ist in drei zentrale Kapitel gegliedert: „Wissen”, „Wirkung“ und „Menschen”. Jedes Kapitel bietet einen eigenständigen Blick auf die Physik – von den grundlegenden Erkenntnissen über ihre technologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen bis hin zu den Menschen, die dahinter stehen. Die Themen variieren dabei in ihrer fachlichen Tiefe: Einige Abschnitte sind allgemein verständlich und richten sich an ein breites Publikum, während andere spezialisierte Inhalte für Leser:innen mit größeren physikalischen Vorkenntnissen behandeln. Diese Vielfalt ermöglicht es, die faszinierende Welt der Physik aus verschiedenen Blickwinkeln zu erkunden. Dabei ist es nicht notwendig, alle Themen im Detail zu verstehen; vielmehr sollen die unterschiedlichen Ebenen der Darstellung Interesse wecken, wichtige Themen benennen und zum Nachdenken anregen, unabhängig vom persönlichen Wissensstand. So laden wir Leser:innen aller Hintergründe ein, die spannenden Facetten der Physik zu entdecken und ihren eigenen Zugang zu finden.
Wir wünschen Ihnen, dass die vorliegende Schrift Ihre Neugier weckt, zum Nachdenken anregt und zur Faszination für die Erkenntnisse und Zukunftsperspektiven der Physik beiträgt!
Die Produktion von „Physik: Erkenntnisse und Perspekiven“ war für die Beteiligten eine spannende mehr als zweijährige Reise durch viele Themen auch außerhalb ihres eigenen Fachgebiets. Was sich für die Menschen hinter diesem Buch als besonders wichtig, lehrreich und vielleicht auch überraschend herausgestellt hat, erfahren Sie aus erster Hand im Video mit Ulrich Bleyer, Sarah Köster und Joachim Ullrich. Demnächst hier